Das andere Luther-Jahr: Teil 1

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Mit 2017 ist das „Luther-Jahr“ zu Ende gegangen. Im Jahre 1517 hatte der Prediger Martin Luther seine „95 Thesen gegen den Ablaß-Handel“ an der Schloßkirche zu Wittenberg angeschlagen. Die 95 Thesen sind nur dem Theologen verständlich, der die Feinheiten des Diskurses bereits kennt. Deshalb verfaßte Luther im Jahr 1518 den „Sermon über Ablaß und Gnade“ für die einfachen Menschen. Es gibt also Anlaß, sich im Jahr 2018 noch einmal mit Luther und insbesondere seiner Bedeutung für uns heute zu beschäftigen. Nicht in hochgestochener Theologensprache, sondern ganz klar und einfach.

Luther wirft mehrere Fragen auf, die uns heute stark beschäftigen.
Erstens die Frage nach dem Deutschtum: Luther personifiziert in einem bestimmten Zeitraum geradezu das deutsche Wesen. Was ist damit gemeint?
Zweitens die Beziehung zwischen Politik und Religion. Die Reformation führt zum 30-jährigen Krieg und den Bauernkriegen. Es ist also keineswegs eine Spezialität der Muslime, aus der Religion politische Folgerungen zu ziehen. Auch in Deutschland fand eine solche Verbindung statt.
Drittens die Frage nach Luthers Antisemitismus. Was steckt hinter einer Schrift wie „Von den Juden und ihren Lügen?“
Viertens die allgemeine Frage, worin besteht Luthers theologische Aussage, und welche Bedeutung hat sie für uns heute?
In diesem Zusammenhang kommen wir wieder zurück zur ersten Frage: Ist Luther eine positive Verkörperung des Deutschtums, die wir uns zum Vorbild nehmen können? Oder gehört er zu den vielen Deutschen, die sich vom Gegner einfangen lassen und einem fremden Herrn dienen, in diesem Falle dem Christentum?

1517 schlug der Reformator seine Thesen an der Schloßkirche in Wittenberg an. Heute herrscht allgemein die Auffassung, daß es sich hierbei um ein welthistorisches Ereignis handelt. Entsprechende Ausstellungen, Tagungen, Zeitungsartikel, Netzseiten usw. zeugen von der Bedeutsamkeit des Datums. In Wirklichkeit zeugt das Luther-Jahr jedoch eher von einer gewissen Ratlosigkeit darüber, was denn das Hochbedeutsame eigentlich sein soll. Und was tatsächlich stattfindet, ist das rituelle „Abfeiern“ eines Kulturereignisses, das für die meisten Leute eben keine besondere Bedeutung mehr hat.

Nur wenigen gelingt es, Martin Luther „zum Leben zu erwecken“. Einer davon ist der Schriftsteller Thomas Mann in seinem letzten Roman „Doktor Faustus“. Hier geht es um Studierende der Theologie, die in ihrem Lehrer Professor Klumpf einer Wiedergeburt Luthers begegnen. Thomas Mann nutzt die Gelegenheit, um ein bestimmtes Lutherbild eindrucksvoll zu transportieren. Der theologische Lehrer liebt es in jeder Hinsicht deftig, und insbesondere pflegt er eine lebhafte Beziehung zum Teufel, den er höchstselbst in der Zimmerecke sitzen sieht und anspricht. Dieses Luther-Ebenbild ist unheimlich, es leitet den Pakt des Dr. Faust anfänglich ein, indem es den Teufel quasi ansprechbar macht.

Thomas Mann erfindet auch einen Ort, wo solche Dinge sich abspielen könnten: „Kaisersaschern“. In Kaisersaschern ist die Zeit stehen geblieben. Es weht eine gotisch-theologische Luft, es wimmelt von Mißgeburten und Originalen, von religiösen Vorstellungen. Die Moderne ist hier noch nicht angekommen. Man merkt heute, daß wir uns mit dem Luther-Jahr nicht an einem Ort wie Kaisersaschern befinden, sondern mitten in der modernen Welt, und da ist es sehr schwierig, eine lutherische Atmosphäre entstehen zu lassen. Was die meisten Leute noch wissen, ist die Sache mit den Ablaßzetteln: ein Mönch namens Tetzel zeichnete zuerst verantwortlich für den Verkauf von Papieren, um das eigene Sündenregister zu erleichtern. Das Verfahren verbreitete sich dann in der katholischen Christenheit. Luther wandte sich scharf dagegen. Was man noch über Luther weiß, ist die Übersetzung der Bibel ins Deutsche, so daß erstmals auch Ungebildete die heilige Schrift lesen konnten. Beides trägt zu einer gewissen Grundsympathie für Luther beim modernen Menschen bei, auch seine Opposition gegen das Zölibat, und daß er die ehemalige Nonne Katharina von Bora heiratete.

Das Problem ist allerdings, daß Luthers Leistungen in einer noch mittelalterlichen Welt stattfinden – Stichwort Kaisersaschern – und heutzutage längst zur Selbstverständlichkeit geworden sind. Ablaßzettel sind unvorstellbar geworden, die Bibel liegt überall, auch bei den Katholiken, auf deutsch vor, die Geistlichen sind nicht nur verheiratet, sondern häufig sogar Frauen. Wozu soll man sich da noch für die Reformation begeistern? Diese Frage hat das Luther-Jahr nicht so recht beantworten können. Entsprechend blieb die Stimmung kühl.

In Wirklichkeit ist Luther bis heute eine höchst zwiespältige Gestalt und enthält genügend Sprengstoff für eine kontroverse Diskussion. Vor allem die Frage: „Wie deutsch ist Luther?“ führt mitten in die Frage nach dem Deutschtum überhaupt.

Zunächst gilt es, von den Ablaßzetteln wegzukommen, die die Katholiken auch ohne Luther sicherlich überwunden hätten. Schon wichtiger ist die Bibelübersetzung. Mit seiner Betonung der „Schrift“ und des Messias als „fleischgewordenes Wort“ kehrt Luther nämlich gewissermaßen zum Alten Testament zurück, das im Protestantismus denn auch eine größere Rolle spielt als im Katholizismus. Man erkennt es schon im evangelischen Religionsunterricht, wo Episoden aus dem Alten Testament plastisch dargestellt werden. Parallel zu seiner Schriftgläubigkeit im Unterschied zu den Sakramenten bei den Katholiken äußert sich Luther sehr antisemitisch. Zwar richtet sich sein Haß nur auf die jüdische Religion und auf die Weigerung der Juden, ihre Religion aufzugeben, und natürlich nicht auf eine „jüdische Rasse“. Trotzdem steckt in seinem Verhältnis zum Alten Testament eine Zwiespältigkeit, die ihn heute über das „Abfeiern“ hinaus aktuell macht.

Zunächst aber gilt es, das Deutschtum Luthers zu beschreiben. Es ist nämlich kein Zufall, daß in Deutschland ein Augustiner-Mönch – Martin war bei den Augustinern zuerst eingetreten – so sehr am Zustand der Kirche zu leiden anfing, daß sein Zustand an eine Depression erinnert. Waren es doch die Deutschen, die seit der Christianisierung die Sorge für den Glauben besonders übernommen hatten und sich mit ihren Reich auf Erden für das Heil im Jenseits zuständig fühlten. Die Päpste in Rom repräsentierten die Macht der Kirche und waren in der Renaissance immer stärker verweltlicht. Es war gewissermaßen logisch, daß der Widerstand gegen diesen Glaubensverfall aus Deutschland kommen würde. Und so ist neben der Schriftgläubigkeit das zweite Kennzeichen von Luthers Position die Betonung des Glaubens überhaupt – „sola fide“ – gegenüber den formalen Regeln, die die katholische Kirche aufgestellt hatte, wie Teilnahme an den Sakramenten, Einhaltung der Feiertage usw. .

Errettet wird der Mensch nur durch die Gnade Gottes, nicht durch die eigene Bemühung („sola gratia“). Also auch nicht durch Spenden und gute Werke. Luthers Rechtfertigungslehre wendet sich gegen das Konzept des Aristoteles zur Willensfreiheit. Aus dieser Gnadenvorstellung mag die Prädestinationslehre hervorgegangen sein, wie sie für bestimmte protestantische Sekten charakteristisch ist. Hier erscheint Gott als der wahre Urheber aller Erfolge und Misserfolge im Leben. Es verquickt sich der Glaube mit geschäftlichem Erfolg, was insbesondere Max Weber zu seiner These von der Bedeutung des Protestantismus für den „kapitalistischen Geist“ veranlaßte.

Einerseits ist das Deutschtum ohne Luther nicht zu denken, und insbesondere der Antisemitismus bezieht sich nicht zuletzt auf ihn. Andererseits enthält Luthers Lehre, die zum Protestantismus sich auch in anderen Ländern entwickelte, eine Nähe zum Judentum, die im Katholizismus bereits überwunden war und in der Renaissance mit ihrer antiken Ausrichtung schon antichristliche Züge trug. Ausgerechnet die Deutschen mit ihrer Reformation hauchten dem Christentum einen neuen Geist ein, der nicht nur in England und in der Schweiz als Calvinismus wirksam wurde, sondern auch in den Vereinigten Staaten den „kapitalistischen Geist“ vorbereitete. „Jüdisch“ ist bereits Luthers Orientierung ausschließlich an Jesus Christus als dem „fleischgewordenen Wort Gottes“ und entsprechend an der „Schrift“ als einziger Autorität für den christlichen Glauben. Damit gab Luther dem Christentum eine neue Richtung. „Deutsch“ an Luther ist jedoch der „Glaube“ selber als Richtschnur für das Leben.

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