Dieses Jahr stand der Jungautorenwettbewerbunter dem Thema der verloren gegangenen Gebiete des deutschen Volkes, da diese nicht nur über Jahrhunderte die deutsche Kultur und generell das ganze Deutschtum maßgeblich mit geprägt haben, sondern auch weil der Jungautorenwettbewerb mit der Kampagne „Deutschland ist größer als die BRD“ verknüpft sein wird. Bei unserer Redaktion gingen in den letzten Wochen viele qualitativ hochwertige Texte, Gedichte und Erlebnisberichte ein, die wir nun Stück für Stück in den nächsten Tagen veröffentlichen werden. Der folgende Text ist einer davon.
Briefe aus vergessenen Zeiten
hunderte Male bin ich schon von Deutschland nach Tschechien gefahren. Meistens mit dem Ziel, im Nachbarland billig zu tanken und für meine Mutter Zigaretten einzukaufen. Bis zu dem Tag, an dem ich dieses Land mit anderen Augen sah, denn ich hatte mich mittlerweile belesen und plötzlich wurden mir Sachen bewusst, die ich vorher schlichtweg übersehen hatte, so wie man einen Film ein zweites Mal sieht und schon das Ende kennt und sich auf nebensächlichere Sachen konzentrieren kann.
Mehr als 12 Millionen Deutsche verloren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat. Sie alle mussten in dem Land, das nach dem Krieg vom Deutschen Reich übrig ist, unterkommen. Mit dem Potsdamer Protokoll vom August 1945 wurde die Vertreibung der Deutschen aus den Alliierten Gebieten endgültig beschlossen. Sie wurden mit Viehwagons abtransportiert, ausgeplündert und misshandelt von Rotarmisten. Deutsche Flüchtlinge – aber sie wurden teilweise von den eigenen Landsleuten behandelt wie Aussätzige. Doch das ist ein anderes Kapitel.
Mit diesem Wissen fuhr ich also das 101. Mal die altbekannte Strecke, passierte die tschechische Grenze, fuhr an den Ständen vorbei, die ich nun gar nicht mehr beachtete. Ich blendete die Straßendirnen und den Verfall des Landes aus und erkannte die alten Häuser in deutscher Bauweise. Weiter, immer tiefer ins Land hinein. Ich fuhr durch Dörfer, die einmal deutsche Namen getragen hatten. Die Straßen wurden von Kilometer zu Kilometer schlechter. Eine alte Kapelle im Wald war bereits in sich zusammengefallen. In Deutschland findet man so etwas nicht. Alle Kirchen sind stets saniert.
Ich fand das älteste Wirtshaus im Böhmerwald, betrat verlassene Häuser, die von Deutschen bewohnt worden waren und suchte auf tschechischen Friedhöfen nach deutschen Gräbern. Eine abgeschlossene Kirche war umgeben von einer Friedhofsmauer, das Tor ebenfalls versperrt. Also kletterte ich über die Mauer und fand einen alten Friedhof, verwittert und in sehr schlechtem Zustand, Gräber waren eingestürzt. Ich fand sie, die Gräber der Deutschen, die hier gelebt hatten.
Gleich neben dem alten Friedhof fand ich ein altes Haus. Im obersten Stockwerk hatte ein Feuer gewütet und das Dach zerstört, doch die unteren Räumlichkeiten und der Keller waren frei zugänglich.
Ich nutzte meine Chance und trat ein. Es dauerte nicht lange, da stach mir die alte Holzkiste förmlich ins Auge. Ich öffnete sie. Darin waren Bilder von einer Frau und einem Mann, auch ein kleiner Junge war zu erkennen, ein Baby, vielleicht ein Jahr alt, und alte Feldpost, gestempelt aus Berlin: Unsere Parole: Tapfer und Treu! So waren die Postkarten gestempelt. Sie kamen aus München, Gotenhafen und anderen großen Städten, datiert in den Kriegsjahren. Die Karten waren am Anfang hoffnungsvoll, siegessicher. Ein Soldat, der heim zu seiner Frau schreibt. Doch je mehr ich las, desto wehmütiger und trauriger wurden sie. Am Ende des Krieges schrieb er davon, dass man das gemeinsame Kind ebenfalls Harald nennen wolle. Ein kleiner Junge, geboren in der härtesten Zeit, was für ein Glück und zugleich eine Sorge musste das bedeutet haben? Und dann der letzte Brief, in einem Umschlag, untypisch. Die Feldpost des Harald Senior war schlicht wie eine Postkarte. Dieser Brief war anders. Und dann bemerkte ich noch etwas: Er war noch zugeklebt. Die Schrift war unleserlich, also wagte ich es, den Brief, der hier so viele Jahre ungeöffnet gelegen hatte, zu öffnen.
Liebster Harald, Böhmen, September 1946
wenn Du diesen Brief liest, werden wir nicht mehr hier sein. Man hat uns alles genommen. Sie kamen und haben gesagt, dass ich das Haus verlassen muss. Wir sollen in das neue Deutschland, denn unser Grund und Boden ist nun Besitz der Tschechoslowakei. Unser Vieh haben sie geschlachtet, das Haus ausgeraubt. Sie haben unsagbares getan, ich will nicht weiter darüber schreiben. Hast Du nicht gesagt, man muss aus jeder Situation das Beste machen? Ich versuche es, Liebster, aber es fällt so schwer. Wer weiß, was uns erwartet? Der Winter steht bevor, manchmal ist es schon sehr kalt am Abend. Mitnehmen dürfen wir nur das, was wir tragen können. Ich weiß nicht, ob Du es hier her zurück schaffst. Ich weiß ja noch nicht mal, ob Du noch lebst. Tränen laufen meine Wangen hinunter und tropfen auf das Blatt. Die ganzen Jahre des Krieges habe ich gekämpft, damit Du heim kommst und ein Haus vorfindest, das auch ein Heim ist. Ich wollte eine tapfere deutsche Mutter sein, habe das Kind geboren, trotz der Schwangerschaft das Vieh versorgt, und jetzt nimmt man uns alles. Warum ist dieser Krieg noch immer so grausam und ungerecht, obwohl er doch schon ein Jahr vorüber ist?
Was ist, wenn wir uns nie wieder sehen, Liebster? Ich weiß ja noch nicht einmal, wo wir hingehen sollen. Wenn Du noch Geld suchst, es ist alles dahin. Alles wurde uns genommen, enteignet. Auch das Ersparte. Ich muss noch packen. Es ist so schwierig, was ich mitnehmen soll… Ich weiß es nicht. Ich hoffe inständig, dass Du uns findest und wir uns wieder sehen werden.
In unendlicher Liebe und Traurigkeit werde ich auf Dich warten, Deine Hermine
Als ich an diesem Abend heimfuhr, war ich erfüllt von Trauer und fragte mich, ob die Familie wieder zusammen gefunden hatte. Ich beschloss, ein weiteres Mal in das Dorf und die nahe gelegene Stadt zu reisen. Dieses Mal war ein Freund dabei.
Wir durchquerten das Dorf und kamen in eine kleine Stadt, wo wir zuerst einmal etwas aßen. Auch mein Begleiter bemerkte, dass die Häuser hier alle aus der Vorkriegszeit stammten und zum Teil auch seitdem nicht mehr renoviert worden waren. Die Tschechen hatten das Gebiet besetzt aber eigentlich konnten sie augenscheinlich gar nichts damit anfangen.
Eine kleine Burg am höchsten Punkt des Berges war in einen Dornröschenschlaf verfallen. Die Kirchturmuhr war irgendwann um 14 Uhr stehen geblieben und bewegte sich seither nicht mehr. Wir fanden einen kleinen Friedhof und am Rande der Friedhofsmauer waren auch hier alte deutsche Gräber. Mein Begleiter durchforstete den Abteil mit den Kindergräbern und nach einem kurzen Augenblick geschah das Unmögliche: Er fand das Grab des kleinen Harald!
Ohne Zweifel war es der Junge, den ich auf den Bildern gesehen hatte, nur etwas älter. Am 11.2.1945 war der kleine Harald geboren wurden. Er verschied schon zwei Jahre danach, am 9.11.1947.
Da lag er nun, der kleine Sohn von Hermine und Harald H. Ehrfürchtig kniete ich mich vors Grab und schoss ein Foto. Ich musste die Tränen verdrängen, die mir unweigerlich hoch kamen. Ich fühlte mich unerklärlicherweise tief verbunden zu diesem kleinen Kind, vielleicht auch, weil mein einjähriger Sohn dem lieben Harry so ähnlich sieht. 1946 – Zur Zeit der Flucht- war Harald auch ein Jahr alt. Ich stellte mir vor, wenn ich nun mit Sack und Pack mein Heim verlassen müssen würde, weil Fremde mir mein Land wegnehmen. Der Mann ist noch im Krieg verschollen, vielleicht auch schon tot. Wie soll ein Mensch das ertragen?
Als wir den Friedhof verließen, erfüllte mich eine seltsame Leere. So viele Schicksale waren hier begraben, so viele Geschichten vergessen. Ich will, dass die Menschen wissen, dass es einmal einen kleinen Harald gab, der von seinen Eltern geliebt wurde. Ich will, dass die Menschen wissen, dass seine Mama Hermine jahrelang stark geblieben ist, voll Zuversicht Haus und Hof aufrechterhalten hat, ganz allein und trotzdem alles verlassen musste. Auch an Harald, der tapfer im Krieg gekämpft hat, sollen die Leute sich erinnern, und an alle, die dasselbe Schicksal ereilt hat.
Ich will, dass die Menschen, wenn sie nach Tschechien fahren, wissen, dass dieser Teil davon einmal deutsch war, dass es hier Schicksale und Geschichten gibt, die wir nicht vergessen dürfen, und wer diese Tatsache verschweigt, der verleugnet auch seine Geschichte, die Geschichte des deutschen Volkes, die Vergangenheit unserer Landsleute.
Gegen das Vergessen!