1951 erschien ein kleines Essay, geschrieben von einem Autoren namens Ernst Jünger. Ein Name welcher heute genauso aus dem kollektiven Wissen der Massen getilgt ist, wie er vor weniger als 100 Jahren noch in dem selbigen präsent war. Ernst Jünger, das war der hochdekorierte Kriegsheld, der als Schriftsteller zum geistigen Revolutionär wurde. Seine Kriegstagebücher „In Stahlgewittern“ wurden hunderttausendfach gelesen und zuletzt 2013 wieder aufgelegt. Doch neben diesem Werk schrieb Jünger dutzende weitere Bücher, die in den 30er Jahren des letztens Jahrhundert große Verbreitung fanden, heute aber oft nur noch von einer Randgruppe gelesen werden. Einer Randgruppe, die zu mindestens einmal suchend und geistig bereit ist, die vorgepriesenen Pfade des herrschenden politischen Establishments zu verlassen. Der Waldgang ist ein solches Werk. Lange mehr oder weniger vergessen wird es heute wieder von widerständigen Geistern gelesen, einer der sich als Feind des bestehenden Systems versteht, reicht es dem anderen weiter, in kleinen Zeitschriften und auf Netzseiten geistiger Revolutionäre wird es erwähnt. Menschen, die merken, daß es doch etwas anderes geben muss, als den neusten Thriller, den ein bezahlter Autor als Vertragswerk abliefert, etwas tiefer gehendes, als das neuste Erzeugnis einer längst verbürgerlichten linken „Kultur-“landschaft. Gelesen von Menschen, die immerhin die Gefahr von radikalen, widerständigen Gedanken nicht scheuen. Doch was versteckt sich hinter dem doch eher unscheinbaren Titel? „Der Waldgang – es ist keine Idylle, die sich hinter dem Titel verbirgt. Der Leser muß sich vielmehr auf einen bedenklichen Ausflug gefaßt machen, der nicht nur über vorgebahnte Pfade, sondern auch über die Grenzen der Betrachtung hinausführen wird.“ ; so die ersten fünf Zeilen der 97 Seiten dieses Essays. Die Frage, die Jünger in seinem Werk betrachtet, ist eine womit sich viele Köpfe, spätestens seit der fortschreitenden Industrialisierung und der „Verhausschweinung des Menschen“, (Konrad Lorenz) beschäftigt haben: Wie verhält sich der Mensch angesichts und innerhalb der Katastrophe?
Doch es geht nicht um die Naturkatastrophe oder das Zusammenbrechen der Ökonomie. Ausgangspunkt ist eine Betrachtung von Wahlen. Wahlen, die zwar objektiv einen korrekten Eindruck hinterlassen, die aber in Wirklichkeit so gesteuert sind, daß es keine wirkliche Alternative gibt. Die Katastrophe ist dieses falsche, ungerechte Regime. Die 98% Zustimmung werden durch uniformierte Wahlhelfer, staatliche Propaganda und beeinflussende Wahlzettel erreicht – bereits hier, 65 Jahre nach dem Erscheinen des Buches, mag sich dem ein oder anderen Parallelen zur heutigen Zeit aufzeigen. Ja, wir haben mehr oder weniger korrekte Wahlen, und dort wo es Wahlbetrug gibt, schreitet sogar hier und da ein Gericht oder die Polizei ein. Und doch haben viele den Eindruck, dass es eben doch nicht korrekt ist, das trotz der offiziell bestehenden Pressefreiheit eine staatliche Propaganda auf allen Kanälen läuft. Es ist keine Diktatur, die grobschlächtig mit Erschießungen und Folter regiert – wir leben in der Wohlfühldiktatur. Es sind diese Parallelen, die dafür sorgen, daß junge Menschen, die vielleicht nicht alle wissen, aber fühlen, daß etwas falsch läuft, auf der Suche nach Antworten wieder zu Jüngers Werk greifen lassen. Die zwei Prozent der Menschen, die mit Nein stimmen, sind die möglichen Waldgänger Jüngers. Und nicht nur wir mögen uns nun bei diesen ersten Zeilen auf den Seiten dieser Waldgänger sehen, wir, die wir die ganze Härte dieser Wohlfühldiktatur bereits erlebt haben, die die politische Polizei und die Geheimdienste dieses Systems kennen gelernt haben, jene Repressionsbehörden, deren Existenz der am Wärmetod (wieder Lorenz) sterbende Normalbürger nicht einmal kennt. Auch jene, die nonkonforme Bücher lesen, vielleicht ihr Wahlkreuz bei einer zu mindestens in Ansätzen gegen das System gerichteten Partei machen, die eventuell im Sportverein oder in der Schule anecken, weil sie eine abweichende Meinung über die Dogmen dieser Republik – Israel, Multikulti, USA-Bindung – äußern, werden sich in dieser Rolle sehen. Und tatsächlich: daß ein solcher Waldgänger realen Widerstand leisten muss, ist die Ausnahme. Der offene Kampf, um die Straße etwa, stellt eine Abweichung des Waldgängers dar und nicht die Norm.
„Im allgemeinen bilden die Institutionen und die mit ihnen verknüpften Vorschriften gangbaren Boden; es liegt in der Luft, was Recht und Sitte ist. Natürlich gibt es Verstöße, aber es gibt auch Gerichte und Polizei“ so eine Stelle aus dem Buch, die uns wieder frappierend an unsere heutige Zeit erinnert. Aber Jünger sieht auch die Möglichkeit des realen Widerstandes vor. Und diese Möglichkeiten sind für ihn offen: Ein Besprühen einer Hauswand liegt genauso in der Betrachtung wie der Partisanenkrieg gegen das System. Es ist die Entscheidung des einzelnen. Doch bei jeder Entscheidung muss dem Waldgänger bewusst sein, dass seine Motive einzig nach seiner Ethik ihn zu seinen Taten berechtigen, das diese Motive entweder für andere unrelevant oder sogar noch strafverschärfend sind. Einzig im Wald – jenem Urbild der deutschen Seele- wird er Freiheit finden, als elitärer Partisan, als politischer Überzeugungstäter. Freiheit die herrschenden Dogmen zu mindestens gedanklich zu brechen, Freiheit die Welt wieder als das zu Erleben, das sie ist, und nicht als eine sterile, künstliche erzeugte Ablagetheke von Konsumartikeln. Der Wald, das ist in einer technisierten Welt auch die Metapher von dem was Julius Evola als „Revolte gegen die moderne Welt“ bezeichnete. Doch Jünger strebte nicht einen Aufruf zum direkten Widerstand an, es werden keine Anleitungen gegeben oder empfohlen dieses oder jenes zu tun. Es ist ein nachdenkliches Werk – wie alle späten Werke von Jünger – und es hat sich abgewandt von der eigentlichen Politik. Der Waldgang ist mehr das Beschreiben einer inneren Emigration, des Widerständlers, der schon lange gedanklich mit den herrschenden Meinungen gebrochen hat. Weniger das Versteck des Partisanen als die Verneinung der bestehenden Welt stellt der Wald da. Nicht der Widerständler der Tat – obwohl auch er mit einbegriffen ist – als den geistigen Widerständler stellt der Waldgänger dar.
Das Ziel der realpolitischen Veränderung konnte im beginnenden kalten Krieg, welcher auch eine Zeit der Stagnation und der Verbürgerlichung war, wenn es denn überhaupt als attraktiv erschien, nur in weiter Ferne liegen. Eine Betrachtungen der damaligen realpolitischen Zustände hätte das Werk auch heute längst überaltert und uninteressant werden lassen. Doch die Botschaft, die es in sich trägt, die Bereitmachung einer geistigen Elite, die sich schon längst im gedanklichen Krieg mit dem herrschenden System befindet, lässt es auch heute noch aktuell sein. Denn der geistige Entschluss, das innere Brechen mit den Dogmen dieser Republik ist die Vorbedingung um einmal aus dem Wald wieder heraus zu schreiten und den Kampf auch als Widerständler der Tat zu führen. Die Frage ob man selber ein Waldgänger ist, ob man die Wärme der Wohlfühldiktatur verlässt und sich in den Wald begibt, ausgerüstet nicht mit echtem sondern mit geistigem Sprengstoff, um sich Einzureihen in die Fronten des geistigen Bürgerkrieges, muss ein jeder selber wissen. Wir jedenfalls wissen um den Antagonismus zwischen unserer Weltanschauung und der Herrschenden. Und wir ziehen daraus die Konsequenzen.