Mythos Europa

Der erste Jungautorenwettbewerb des Jahres 2017 findet zum Thema „Europa“ statt. Europa, das ist mehr als nur ein Wort oder eine geographisch eingrenzbare Landmasse. Europa, das ist die Geschichte des Abendlandes, das sind heroische Helden, große Feldherren, geniale Erfinder und wortreicher Dichter. Europa – das ist auch ein Mythos, ein Mythos der unsere Herzen bewegt und unsere Gedanken beflügelt.

Im Morgendämmern der Geschichte, im Zauber der Frühnebel versunkener Jahrtausende lebt der Mythos, ein freundlicher Bote der Götter zu uns Menschen, denen er in dichterischer Verklärung das ewig verborgene zu enthüllen scheint. Dort, wo das Menschen Ahnen und Suchen seine Grenzen erkennt, beginnt des Mythos weites Reich, und die grübelnden Geister aller Zeiten haben aus ihm den Trost für das Unvermögen menschlicher Ratio entzogen. Sie haben ihn aber auch mit der ganzen Einfalt ihrer Herzen zu sich gerufen, haben durch den Mythos ihre Vorstellungswelt um reiche Bilder vermehrt, das dunkle Ungewisse mit geisterhaften Spuk, mit Faun und Nymphe, mit Gott und Halbgott belebt. Starre Begriffe sind so personifiziert und Gegenständliches in menschennahes Geschehen mit leicht fassbaren Bildern übertragen worden. Die Mythen schlummern in den Gründen der Völkerseelen. Sie verraten, ob Völker dem Göttlichen nah oder fern stehen, ob sie reich oder arm sind, ob ihr Zug durch die Geschichte auf den Höhen der Menschheit oder im flachen Lande der Mittelmäßigkeit verläuft. Wir, die wir wieder lernen, den Rhythmus des Kontinents zu spüren und auf seine Gesetzmäßigkeiten zu lauschen, zaubern mit Freude auch die Bilder hervor, die der Mythos um seinen Namen gerankt hat. Die Sage von der Europa ist eingegangen in den Gedankenschatz der Völker des Erdteils, der ihren Namen trägt. Er verkündet mit vernehmlicher Stimme, dass ein Bewusstsein Europas über die Grenzen geschichtlicher Existenz hinaus in das verträumte Land des Mythos zurückgreift und das, was wiedergeboren wird, schon lebt, solange eine Kultur und ein Recht die Menschen und Völker zu Staaten verbunden hat.

Europa, die Tochter von Agenor

Eine Jungfrau von blendender Schönheit, die Tochter des Königs Agenor, wird Europa genannt. Am Strande von Tyrus vertreibt sie sich mit ihren Gespielinnen die Zeit. Ihr strahlender Leib ist eingehüllt in ein Gewand Neptuns, das sich im Königshaus von Tyrus und Sidon von Geschlecht auf Geschlecht vererbt hat. Hyazinthen und Krokusse, Veilchen und Rosen, Narzissen und Quendel erfüllen die Luft mit einem selten betäubenden Wohlgeruch. Die Schar der lieblichen Mädchen pflückt Blumen und windet Kränze. Doch der buhlende Gott greift schon begierig nach dem königlichen Kind. Seinem Sohn Merkur befiehlt Jupiter, der Kronide, die Herde des Königs Agenor von den sidonischen Bergweiden zu den Blumenwiesen der Küste herabzutreiben. Er selbst verwandelt sich die Gestalt eines Stieres, um sich in der Herde unauffällig der Königstochter zu nähern. Doch unter den Stieren der phönizischen Küste ist keiner dem göttlichen Tier an  Gestalt ebenbürtig. Herrlich zieht das mächtige Tier in der Herde dahin und nähert sich den Mädchen. Da er ihnen zahm und edel erscheint, finden sie an ihm Gefallen. Ihre duftenden Blumen hält Europa dem Stier vor das schäumende Maul, und schmeichelnd leckt das Tier der vertrauensseligen Jungfrau die Hand. Sie soll ihm in ihrer Freude an der Güte des zahmen, vornehmen Herren der Rinderherde einen Kuß auf die Stirn gedrückt haben, und das freudige Brüllen des einzigartigen Stieres soll dem Klang der lydischen Flöte ähnlicher als den groben Lautern der gewöhnlichen Tiere gewesen sein. Als aber die Freundinnen die kunstvoll geschwungenen Hörner des Stieres mit ihren Blumenkränzen geschmückt hatten, schwang sich die königliche Europa behänd auf den Rücken des kräftigen Tieres. Kaum aber wußte der Gott die süße Last sicher in seiner Macht, als er sich mit seinem Raub zunächst unauffällig, dann immer kühner und rascher in Bewegung setzte, von den Wiesen zum Strand dahinflog und mit seiner Beute durch die Wogen des Meeres schwamm, ohne daß die Wasser sie auch nur benetzten. Gegen Abend endlich erreichten Stier und Jungfrau das ferne fremde Land, an dessen Küste unter seiner alten Esche mit hohem Laubdach der Gott sich zu erkennen gibt, und wo er die Liebe des Mädchens empfängt, das er geraubt. Bei Gortyn soll der alte Baum gestanden haben, wo sich Jupiter mit der Europa vermählte und wo nach dem Willen der Gottheit ein fremdes Land den Namen der Königstochter Europa erhielt. Die Insel Kreta, im Mittelpunkt der alten, damals bekannten Welt gelegen, ist nach der Meinung des Altertums ein Sitz der Götter gewesen. Auf dem heiligen Ida-Berg soll Jupiter die Tage der Kindheit verbracht haben, und die Göttermythe läßt ihn nach Nahrung und Pflege weinen, bis die Bienen kommen und ihn mit ihrem Honig nähren, die Ziege Amalthea ihn mit ihrer Milch säugt und die Tauben ihm übers Meer Ambrosia zutragen. In der diktäischen Grotte am Berg Ida wächst nun, wie einst Jupiter, der Sohn der Europa, vom Gott selbst erzogen heran. Es ist Minos, der König der Kreter. Seinen Ruhm singen die Weisen des klassischen Altertums. Homer und Hesiod verkünden des Königs Minos hohes Lied, für Plato ist er der Vater aller Ordnung. Isokrates beschwört seine hohe Gestalt auf sonderbar geschweiftem, auf unsere Tage noch überkommenem Thron, und die zünftigen Historiker Herodot, Thukydides und Diodor überliefern, wie viele andere, sein sagenumwobenes Bild.

Europa hat die Liebe der ersten unter den Göttern gewonnen. Ihr Sohn ist der erste Gesetzgeber der Menschheit, den Sage und Geschichte kennen. Ein Sohn der Europa hat das Recht in die Welt gebracht und wie, wie die alten Schriftsteller übereinstimmend feststellen, seine Untertanen gegen die Willkür der Seeräuberei geschützt. Die Zeit, da der mächtige Herrscher im Palast von Knossos die Gesandten der damaligen Welt empfing, wird von den Griechen als das heroische Zeitalter angegeben. Eusebius sieht in Minos den Zeitgenossen der beiden Dioskuren, des tatendurstigen Herakles, des weisen Asklepios, des Theben gründenden Kadmos, des Perseus, der das Medusenhaupt abschlug, und des weinseligen Dionysus. Doch unter den Halbgöttern ist keiner wie Minos von Jupiter selbst erzogen, kehrt keiner von Zeit zu Zeit zur Beratung zum Göttervater zurück. Und Jupiter hört auf sein Gebet nach Rache, als ihm die Athener seinen Sohn Androgeos feige ermordeten. Er hat sein Herrscheramt von den Göttern empfangen und beweist es seinen Untertanen, indem er verkündet, es geschehe, um was er bete. So bittet er Poseidon um ein würdiges Opfer, und siehe, es entsteigt den Fluten des Meeres ein Stier von hervorragender Schönheit. Mit Jupiters goldenem Zepter belehnt, regiert er wohl nur über hundert Städte der ägäischen Inselwelt, aber darüber hinaus wird er zum ersten Gesetzgeber der Menschheit, zu Lykurg, und nach ihm zu allen großen Lenkern von Völkerschicksalen in die Schule gehen. Minos ist König und Gesetzgeber. Rhadamanthys, sein Bruder, Richter und Wahrer des Rechts. Der Krieger- und der Bauernstand treten als die geachtetsten in die Geschichte ein. Herodot setzt die Regierungszeit des Minos drei Generationen vor Ausbruch des Trojanischen Krieges an, und eifrige Philologen meinen das Jahr 1284 vor der Zeitwende als ein Jahr der minoischen Herrschaft angeben zu können. Die Blutsteuer, die er der Jugend Athens aufbürdet, die unnatürliche Unzucht seiner Gattin Pasiphae, die de Minotaurus erzeugte, der Streit unter den Söhnen der Europa und die Eifersucht, die den König zur Verfolgung des genialen Daidalos hinreißt, sind typisch menschliche Züge, die dem Mythos um den König der kretischen Doppelaxt seine Schattenzüge verleihen. Uns ist nichts überliefert als der weitverzweigte Königspalast von Knossos in seinen jahrtausendealten Trümmern und die ewig fortklingende Mythe vom Sohn der Europa, der die staatliche Ordnung und das Recht in die Welt brachte. Die europäische Menschheit hat ihn nicht zu Staub zerfallen lassen. Rhadamanthys und Aiakos zur Rechten und Linken, so herrscht er als oberster Richter im Reiche der Toten, der Sohn der Europa, der Gott der Ordnung und ewigen Satzung. Den Philologen bleibe der Streit über die Herkunft des Namens der Europa überlassen, da einige der Tochter des Agenor die Ehre streitig und eine der Töchter des Oceanus zur Stammmutter Europas machen wollen. Gewiß ist, daß „Europa“ sprachlich vom „Ereb“ (=Dunkel) sich herleitet und die Bezeichnung des Abendlandes eine wortgetreue Übersetzung des alten Namens ist.

Diese entmythologisierte Deutung unseres Erdteiles leistet aber jenen Geistern Vorschub, die aus machtpolitischen Interessen immer daran interessiert waren, Europas Bedeutung zu verwischen und Eurasien an seine Stelle zu setzen. Die vorgeschobene Bastion des riesigen Raumes Asien scheint ihnen keinen eigenen Erdteil wert zu sein. Der Mythos der Europa beschwört ein Bild von eines Gottes Liebe und der Erde, der er sie zuerst schenkte. Er erhebt eine liebliche Jungfrau zum Sinnbild der von Gott umworbenen Schönheit. Er ruft der Nachwelt ins Gedächtnis, wer das recht und die Ordnung zuerst in die Welt brachte. Wir Europäer wollen den anderen das Goldene Kalb und des Moses Gesetztafeln samt dem Bilde des Berges Sinai überlassen. Wir haben den Minos und Lykurg, die Kultur von Mykene und von Korinth. Wir sagen Troja und Homer. Wir rufen Plato und Athen. Wir schauen zum Kapitol und den Gracchen. Wir preisen Cato und Augustus. Wir lachen der Niedrig-Geistlosen, die Recht und Freiheit der Welt gepachtet haben wollen (aber von Europa für die Kulturwelt erst entschlossen wurden) und deren ganzer sinnbildlicher „Zauber“ aus drei Buchstaben des Alphabets (USA) oder dem materialistischen Schlagwort von der westlichen Hemisphäre besteht.

Wir müssen nur in der Vergangenheit schauen, um die ganze Lächerlichkeit und Anmaßung einer Europa-feindlichen Welt zu empfinden. Denn der Gott der Götter liebt uns wie einst im Mythos der Vorzeit, und wenn einer das Recht und die Ordnung der Welt zurückgibt, so wird es wieder ein Sohn der Europa sein!

Siehe Jungautorenwettbewerb

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