Vom Sommermärchen 2006 zu „Ach, es ist Fußball?“ 2021
Wie viele andere Kinder begann ich mich im Zuge der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland für Fußball zu interessieren. Jürgen Klinsmann, Miroslav Klose und Lukas Podolski: Das Sommermärchen begeisterte auch mich. Gerne erinnere ich mich an Panini-Stickeralben, eine Euphorie-Welle im Land und spannende Partien zurück. Für mich war Fußball damals noch nicht politisch konnotiert. Doch was mich schnell begeisterte, war dieses spürbare Gemeinschaftsgefühl, was auch meine Schule damals erfasste.
Spätestens beim darauffolgenden Turnier, der Europameisterschaft 2008 in Österreich und der Schweiz lernte ich auf diesem Weg, so merkwürdig das für gestandene Nationalisten klingen mag, zum ersten Mal das Gefühl kennen, Teil einer Nation zu sein. Damals bildeten sich in unserer Schule Lager, die Türken und die Deutschen, und Frotzeleien blieben nicht aus. Da waren wir und die. Während man im Alltag sich nach Wohnort oder schulischem Leistungserfolg aufspaltete, rückte man nun zusammen. „Wir“ spielen heute. Natürlich war auch zu diesem Zeitpunkt die Nationalmannschaft längst kein Team wahrer Deutscher mehr, doch woher sollte man das als Jugendlicher in einer „BRD-Heile-Welt-Blase“ schon wissen?
Bei der Weltmeisterschaft 2010 war meine Fußballleidenschaft auf ihrem Höhepunkt, zweimal wöchentlich wurde der Kicker, einmal wöchentlich die Sport Bild und einmal im Monat die 11 Freunde gelesen, zusätzlich Literatur ausschließlich über Fußball und selbstverständlich wurde jedes nur mögliche Fußballspiel im Fernsehen mitgenommen. Im Alltag wurde natürlich jedes Spiel des eigenen Vereins Energie Cottbus verfolgt. Die Spiele in Südafrika waren stets mit einer gewissen Rivalität verbunden, egal ob gegen Ghana oder gegen England, jedes Spiel wurde gewissermaßen nationalistisch aufgeladen. Zudem ging es mit den Schulkameraden zum „Public Viewing“, man sang und feierte gemeinsam und auch hier war der Zusammenhalt deutlich spürbar. Nichts wünschte ich mir sehnlicher als einen Sieg der Nationalmannschaft in diesem Turnier.
Im Jahr 2012 wurde ich politisch aktiv und doch fieberte ich noch mit der Mannschaft mit, denn noch waren meine politischen Vorstellungen eher diffus. So war es für mich wohl noch vereinbar, eine Mannschaft, in der Ilkay Gündogan, Mesut Özil und Sami Khedira spielten, zu unterstützen und gleichfalls revolutionäre Veränderungen für mein Land einzufordern. Doch bereits 2014 schwand mein Interesse für den Verband nachhaltig. Den Sieg in Brasilien feierte ich und doch war es für mich nicht sehr bedeutsam.
In späteren Jahren unternahm ich auch Reisen zu Länderspielen, auch angetrieben von den Erzählungen anderer Fußballkameraden von vergangenen Zeiten bei Länderspielen. Doch das Klientel, was ich dort vorfand, widerte mich schnell an. Während man früher noch nationalgesinnte Hooligans bei solchen Spielen antraf, fand man nun ein gut betuchtes Konsumenten-Klientel vor. Menschen, die pedantisch Regeln befolgen, politische Korrektheit inbrünstig vorleben und genau deshalb gesellschaftlich und beruflich erfolgreich sind. Bei Auswärtsländerspielen wollen diese Personenkreise ein wenig, aber keinesfalls zu viel Abenteuer in ihre langweiligen Leben bringen. Das „Abenteuer“ besteht dann aus erhöhtem Alkoholkonsum, die politische Korrektheit wird jedoch auch in entsprechenden Zuständen gewahrt.
In den letzten Jahren ist mein Interesse für den großen Fußball komplett erloschen. Welche Rolle spielt es, wer wann welchen Titel holt, ob jemand glücklich oder unverdient Spiele gewinnt? Ich habe aus Überzeugung keinen Fernseher und auch daher flimmert abends nicht die Jagd nach dem runden Leder vor meinen Augen. Wenn ich Fußball schaue, dann allenfalls selten aus sozialen Anlässen.
Einen solchen bot das Länderspiel Ungarn – Deutschland. Nach längerer Zeit traf ich einen alten Bekannten wieder und so schauten wir das Spiel in einer Lokalität in meiner Heimatstadt. Es ist lange her, dass ich so bei einem Fußball-Länderspiel mitgefiebert habe – und das erste Mal, dass ich für den Gegner der „Mannschaft“ war. Zu krass waren die Gegensätze zwischen dem, was mich mit Deutschland verbindet, und dem, was da auf dem Rasen „Deutschland“ repräsentieren sollte. Regenbogenarmbinde, eine „bunte“ Mannschaft und ein Flitzer mit DFB-Trikot, Regenbogenfahne und Maske. Besonders symbolträchtig war für mich die Situation, als ein Regenguss über der Allianz Arena niederging. Während die ungarischen Gästefans stolz unter Missachtung sämtlicher Abstands- und Maskengebote stehen blieben und oberkörperfrei ihre Gesänge fort sangen, flüchtete die Regenbogenanhängerschaft in die Katakomben der Arena.
Fußball kann eine verbindende Kraft haben. Fußball kann mehr sein als nur „Brot und Spiele“. Der Sport verkörpert, wenn auch auf einer eher willkürlichen Grundlage, das Prinzip Gemeinschaft. Zusammenhalt, Leidenschaft, Unterordnung unter ein gemeinsames Ziel. Doch oftmals stellt Fußball auch ein Abbild der vorherrschenden Gesellschaft dar. Die „Mannschaft“ ist ein herausragendes Vorbild für die Gesellschaft, die den herrschenden Eliten vorschwebt. Diese Gesellschaft ist krank. Ich bin nicht mehr dabei und das ist gut so.
«Die Mannschaft» ist eine internationale Söldnertruppe der Werbeindustrie, die als Vehikel benutzt wird, um konsumgesellschaftsfreundliche politische Inhalte zu befördern. Nebenher spielt sie auch noch Fußball, aber nicht grade erfolgreich.
Sehr guter, gelungener Artikel aus eigenen Erfahrungen, die ich so teilen kann.
Die Mannschaften von 1986-1998 waren nahezu aus Spielern besetzt, die auch bereit waren, das letzte Hmed zu geben.
Der WM-Sieg 2014 ist auch daran geschuldet, dass einfach zu viele Teams zu schlecht waren, um gegen das „deutsche“ Team zu bestehen.
Sehr schön aufgelistet, gut rekonstruiert. Den älteren fiel es aber schon lange vorher auf. 2002 gab’s schon den Quotenneger Yeboah. 1990 waren Wir noch eine Nationalmannschaft, welche es verdiente auch so genannt zu werden. Wenn alle die so ähnlich denken wie wir kein Fußball mehr schauen würden, wären die um etliche Millionen ärmer.