Die literarische und militärhistorische Aufarbeitung des russischen Überfalls auf die Ukraine hat bereits begonnen. Erste Erlebnisberichte wurden bereits verlegt. Einer davon ist das Buch mit dem Titel „ZOV“ von Pawel Filatjew. Es wird als Tatsachenbericht des russischen Fallschirmjägers gehandelt. Als Angehöriger des 56. Luftsturmregiments griff Filatjew zusammen mit anderen russischen Einheiten die Ukraine am 24. Februar 2022 von der besetzten Krim aus an. Im Internet kann das Buch als PDF auf Russisch kostenlos heruntergeladen werden. Im Handel in Deutschland gibt es die 188 Seiten zum stolzen Preis von 23 Euro (Gebraucht ab 7 Euro). Aus der Sicht des einfachen Frontsoldaten schildert Filatjew seine Erlebnisse als Fallschirmjäger in der russischen Armee vor und während des Überfalls auf das Nachbarland und gibt dabei einen interessanten Einblick in das Leben eines einfachen Soldaten der russischen Armee.
Bei dem im Verlag Hoffmann und Campe erschienenen Erlebnisbericht ist der Schreibstil einfach gehalten. Wer militärische Begrifflichkeiten kennt, ist jedoch klar im Vorteil, allerdings lassen sich alle Begrifflichkeiten, die für Fahrzeuge (z.B.: URAL = großer Militärlaster, UAZ = kleiner Bulli) oder Waffensysteme (Grad = Mehrfahrraketenwerfer, 2S19 = russische Panzerhaubitze) natürlich auch schnell im Internet recherchieren. Die Erzählweise wechselt in Zeitsprüngen zwischen den ersten eineinhalb Wochen des russischen Angriffs und dem Werdegang des Autors bis zu der Zeit unmittelbar vor dem Angriff. Die konkreten Kriegserlebnisse umfassen den Zeitraum vom 24.02.2022 bis zum 07.03.2022. Kampfhandlungen auf dem Weg der russischen Armee nach Cherson, die Einnahme der Stadt und die erfolglosen Versuche, weiter nach Mykolajiw vorzustoßen, werden dabei behandelt.
Autor schildert desolaten Zustand der russischen Armee
Die Erzählung gibt einen guten Einblick in den desolaten Zustand der russischen Armee. Der Autor stammt aus einer Soldatenfamilie. Sein Vater war bis zu seinem frühen Tod Berufssoldat beim 56. Luftsturmregiment und kämpfte in Tschetschenien. Der Sohn trat in die Fußstapfen des Vaters und ging mit der gleichen Einheit in den Einsatz. Zuerst nach Tschetschenien und dann 2022 in die Ukraine. Verbittert ist der ehemalige Unteroffizier vor allem über den Niedergang der Armee. Sinnlose Reformen und ständige Umgruppierungen, Negativauslese bei den Offizieren, schlechte Versorgung und eine katastrophale Führungskultur. Einprägsam auch die Szene, die Filatjew beschreibt, als er sich 2021 – nach mehrjähriger Pause – wieder zum Dienst in der Armee meldet: Die heruntergekommene Kaserne, ein Appellplatz voller Schlaglöcher und kopulierende Straßenköter vor der Kantine. Die Ausrüstung ist veraltet, kaputt oder einfach nicht vorhanden. Ausbildung fand nicht statt, dafür umso mehr Beschäftigungstherapie mit sinnlosen und absurden Tätigkeiten. Einarbeitung in lebenswichtige Praktiken wie dem Packen des Fallschirms gab es für die Zeitsoldaten nicht. Wer gegen diesen Irrsinn protestierte, zog den Groll der Vorgesetzten auf sich.
Angriff auf Cherson
Während des Einsatzes in der Ukraine zeigten sich die Folgen dieser desolaten Vorbereitung und Führungskultur. Bereits vor dem Einmarsch war die Truppe aufgrund der widrigen Bedingungen auf dem Truppenübungsplatz Staryj Krym, auf welchem sie schon einen Monat hauste, abgekämpft, dreckig und ausgelaugt. Wohin es ging und was anstand, wusste keiner der Soldaten, teilweise noch nicht einmal die Offiziere, vermutet Filatjew. Vor dem Einmarsch wechselte der Autor spontan zu einem Mörsertrupp, da hier anstatt fünf Mann für die Bedienung nur jeweils drei vorhanden sind. Dadurch ist er meist nicht an vorderster Front im Einsatz. Die Aufgabe seiner Gruppe ist die Feuerunterstützung der Sturmtruppen. Einen Orden hätte sich seiner Meinung jedoch der Fahrer des schweren Ural-Lastwagens verdient. Immerhin hat der Mann das mit dem 82mm-Mörser, Munition und der vierköpfigen Besatzung vollbeladene Fahrzeug über 350 Kilometer von Staryj Krym zum Flughafen von Cherson gebracht, obwohl der schon bei der Abfahrt schrottreife Laster keine Bremsen mehr hatte.
Viele Verluste in den ersten Tagen wurden – so vermutet der Autor – durch das Feuer der eigenen Truppen verursacht. Einmal geriet er mit seinen Mörsertrupp selbst in das Kreuzfeuer der Kameraden. Organisierter Widerstand der Ukrainer bekommt er anfangs kaum zu Gesicht. Den russischen Truppenführern ist vieles egal, Kolonnen stehen dicht gedrängt, Wachposten werden nicht besetzt, die Versorgung mit Lebensmitteln funktioniert nicht, die Kommunikation bricht ständig zusammen. Auch Plünderungen beschreibt Filatjew und beteiligt sich auch selber daran. Beim Sturm auf Cherson liegt der Autor mit seiner Gruppe in einem Graben vor der Stadt und wird mit dem Widerstand der Zivilbevölkerung konfrontiert.
Interessanter Erlebnisbericht eines einfachen Soldaten
Natürlich kann der Wahrheitsgehalt der Aussagen von Filatjew nicht vollständig überprüft werden. Die Geschichte ist in sich schlüssig und bestätigt viele Beobachtungen (oder auch Vorbehalte, Vorurteile, Vermutungen), was sie aber natürlich nicht zwangsläufig wahr macht. Viel Verbitterung schwingt bei den Schilderungen des Kriegsveterans, welcher sich persönlich ausgenutzt und schlecht behandelt fühlt, mit. Der Bericht kann getrost auch als Abrechnung des aktuell im französischen Exil lebenden Russen verstanden werden. Dennoch gibt er nicht nur dem militärisch Interessierten einen spannenden Einblick in den Zustand der russischen Armee und die ersten Tage des Überfalls auf das Nachbarland. Daher ist der Erlebnisbericht für jeden zu empfehlen, der den Krieg in der Ukraine verfolgt. Wer das Werk gebraucht erwirbt, schont dabei nicht nur den Geldbeutel, sondern tut nebenbei auch etwas Gutes für die Umwelt.
Für diejenigen, die interessiert sind, empfehle ich Ihnen auch, sich mit den Werken von Darya Dontsova vertraut zu machen – über die gleiche Reihenfolge und Qualität zu lesen.