Schlägt man an diesem Dienstag die führende Berliner Zeitung „Der Tagesspiegel“ auf, so glaubt man seinen Augen nicht zu trauen. Auf der Meinungsseite prangt ein Kommentar mit der Überschrift „Wenn aus Flüchtlingen keine Fachkräfte werden“. Ein jüngerer Journalist namens Fabian Leber beklagt zuerst das „Nützlichkeitsdenken“, unter dem die Asylsuchenden meistens betrachtet würden: „Weil unser Wirtschaftssystem sonst nicht mehr funktioniere, das Rentensystem wegen Kindermangels zusammenbreche, politisch und ökonomisch der Absturz drohe. Allein schon deshab sei es richtig, Flüchtlinge aufzunehmen.“
Gegen diese Optik erhebt Fabian Leber Einspruch. Erstens weil dadurch die Flüchtlinge „instrumentalisiert“ würden und die „Humanität“ auf der Strecke bleibe. Das Recht auf Asyl müsse „bedingungslos“ gewährt werden, egal was aus den Einwanderern in Deutschland wird. Nach dieser politisch korrekten Einleitung kommt eine überraschende Anwandlung von Realismus: „Ob es in Deutschland tatsächlich einen massenhaften Mangel an Arbeitskräften gibt oder geben wird, ist durchaus umstritten“, gibt die Zeitung zu. „Beim angeblich so stark nachgefragten Ingenieursberuf zum Beispiel herrscht im Augenblick eher ein Überangebot“, heißt es weiter. „In manchen Ausbildungsberufen sieht es nicht anders aus, bei Malern und Maurern liegt die Arbeitslosenquote im höheren zweistelligen Bereich.“ Und schließlich „könnten Digitalisierung und Technisierung viele Arbeitsplätze überflüssig machen“.
In der Summe „bringt es nichts, undifferenziert von Fachkräftesicherung zu sprechen. Ein Überangebot an Arbeitskräften hilft am Ende nur Unternehmen, die die Löhne senken möchten.“ Der Beitrag zeigt: auch bei den etablierten Medien sitzen Leute mit gesundem Menschenverstand. Und gelegentlich dürfen sie ihn sogar anwenden – vorausgesetzt der ideologische Rahmen bleibt unangetastet.
In der „Süddeutschen Zeitung“ steht an unscheinbarer Stelle ein Artikel mit ähnlicher Botschaft. Dort wird eine Studie vom Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) vorgestellt. Es geht um diejenigen Einwanderer, die sich bereits in „Fachkräfte“ verwandelt haben, nämlich durch ein abgeschlossenes Hochschulstudium in technischen oder naturwissenschaftlichen Fächern. Zwar gilt dies nur für einen geringen Prozentsatz der Migranten, aber bei dem angeblichen Fachkräftemangel müßten die Unternehmen sich um solche Bewerber eigentlich reißen. Laut der Studien ist das jedoch nicht der Fall. Die ausländischen Hochschulabsolventen haben erhebliche Schwierigkeiten, eine entsprechende Stelle zu finden.
Die Gründe dafür setzen sich wahrscheinlich aus verbliebenen Defiziten der Bewerber und der Tatsache zusammen, daß der leergefegte Arbeitsmarkt auf einem Märchen von Politik und Wirtschaft beruht. Wenn jedenfalls der afrikanische Maschinenbauer oder der syrische Diplomingenieur noch Schwierigkeiten bei der beruflichen Integration haben, dann ist das, was sich bei der Aufnahme von Flüchtlingen ohne jede Qualifikation abspielt, der reine Wahnsinn.
Bild: 1971yes / www.bigstock.com