Vor 75 Jahren wurde die sogenannte „deutsche Schrift“ oder „Frakturschrift“ per Dekret abgeschafft und durch die lateinische Schrift („Antiqua“) ersetzt. Diese Maßnahme Adolf Hitlers stieß damals bei vielen Parteigenossen auf Unverständnis und löst bis heute Irritationen aus. Die „gotische Schrift“ stammt aus dem Mittelalter und ist in den meisten europäischen Ländern mit der Neuzeit allmählich verschwunden. Nur die Deutschen hielten bis ins 20. Jahrhundert an den Schnörkeln fest. Sie fanden in dieser Besonderheit ein Symbol für das deutsche Wesen. Und so taucht die alte Schrift bis heute gelegentlich als Zeichen uriger Gemütlichkeit, Volkstreue oder sogar als „Nazi-Schrift“ auf. Wie kam ausgerechnet Hitler auf den Gedanken, daß „die Antiqua künftig als Normal-Schrift zu bezeichnen und sämtliche Druckerzeugnisse auf diese Normal-Schrift umzustellen“ seien?
Dafür gibt es einen ganz vernünftigen Grund. Zur Jahreswende 1940/41 war Deutschland erfolgreich dabei, eine neue europäische Ordnung zu schaffen. Unter deutscher Führung strebte man einen wirtschaftlichen und politischen Zusammenschluß an. Die Amtssprache sollte selbstverständlich deutsch sein. Doch das Deutsche ist keine einfache Sprache, deutlich schwieriger als das heute dominierende Englisch. Noch mehr erschwert würde das Erlernen durch die ungewohnten verschnörkelten Buchstaben. Dieses Hindernis wollte Hitler beseitigen, um desto besser die deutsche Dominanz in Europa durchzusetzen. Der Verzicht auf das Symbol sollte einen realen Machtgewinn bedeuten.
Propagandistisch unterstützt wurde der Abschied von der gotischen Schrift durch die Behauptung, daß es sich dabei um „Schwabacher Judenlettern“ handelte. Daran ist bloß richtig, daß jüdische Buchdrucker bei der Einführung dieser Schrift ein gutes Geschäft gemacht hatten. Hinter der Sache mit den „Judenlettern“ könnte aber auch eine Erfahrung aus den Jugendjahren Hitlers stecken. Damals hatte nämlich die gotische Schrift unter dem Einfluß des Jugendstil eine spezielle Form angenommen, die auf vielen Plakaten prangte und stark an hebräische Buchstaben erinnerte.
Für uns heute stellt sich die Frage anders. Zurückgedrängt auf eine Subkultur würde dem deutschen Wesen mit einer eigenen Schrift, anders als im Januar 1941, wohl gedient sein. Nur: die Jüngeren können sie nicht mehr lesen, schon gar nicht die Schreibschrift (Sütterlin). Zumindest punktuell kann die deutsche Schrift, jedoch in ihrer strengen und blockartigen Ausprägung der 30er Jahre, auch heute noch große Wirkung erzielen. Und sie beweist, daß Nazis seit jeher flexibel auf die Zeitumstände reagieren.