Was außerhalb Deutschlands unter ernstzunehmenden Wissenschaftlern längst anerkannt ist, gilt im eigenen Land nach wie vor als unliebsam. Dennoch macht sich über 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs glücklicherweise eine immer größere Unbekümmertheit breit, was die Deutung der damaligen Ereignisse angeht.
Während die weitgehend gleichgeschaltete Historikerzunft stets bemüht ist, das Mantra von der deutschen Schuld zu bedienen, ist es nicht zuletzt den Militärs zu verdanken, dass neue Erkenntnisse zutage gefördert werden, die das etablierte Geschichtsbild ins Wanken bringen.
Den Anfang machte 2003 der Generalmajor a. D. der Bundeswehr Gerd Schultze-Rhonhof mit seinem Buch „Der Krieg, der viele Väter hatte“ (www.vorkriegsgeschichte.de).
Nun hat mit Dr. Bernd Schwipper, Generalmajor a.D. der NVA, promoviert an der Militärakademie „Friedrich Engels“ in Dresden und ausgebildet an der Akademie des Generalstabes der Sowjetunion in Moskau ein weiterer hochrangiger Offizier ein revisionistisches Werk vorgelegt. Deutschland im Visier Stalins: Der Weg der Roten Armee in den europäischen Krieg und der Aufmarsch der Wehrmacht 1941 untermauert die These vom deutschen Präventivschlag gegen die Sowjetunion, anhand neuer Quellenfunde.
Getreu der Binsenweisheit, dass einen Krieg nicht der beginnt, der den ersten Schuss abgibt, sondern der, der den Anlass dazu liefert, wurden über 3.500 russische Dokumente in der Gesamtschau ausgewertet. Das Ergebnis: Alle Operationspläne der Roten Armee ab dem 19. August 1940 waren reine Offensivplanungen gegen Deutschland und seine Verbündeten. In diesem Zusammenhang ist auch der bereits bekannte Vorbefehl Stalins vom 11. Juni 1941 zu betrachten, der anordnete, „zum 1.Juli 1941 zur Durchführung von Angriffsoperationen bereit zu sein“.
Alle politischen und militärischen Maßnahmen der UdSSR in den Jahren 1939 bis 1941 hatten nur ein Ziel: Die kommunistische Revolution nach Westeuropa zu tragen.
Zu diesem Zweck
- schufen die Sowjets mit dem Überfall auf Polen und der Besetzung des Baltikums eine gemeinsame Grenze zum deutschen Reich
- begann nach den sowjetischen Eroberungen 1939/1940 der sofortige Ausbau der militärisch nutzbaren Infrastruktur Richtung Westen
- wurden systematisch Methoden der verdeckten Teilmobilmachung entwickelt, um bereits in Friedenszeiten zur Offensive fähig zu sein und sich den Überraschungsfaktor beim geplanten Angriff sichern zu können
- begann mit Beginn des Jahres 1941 unter Tarnung eine gewaltige Massierung sowjetischer Truppen an der Westgrenze entsprechend der in den jeweiligen Operationsplänen genannten Hauptangriffsrichtungen
- wurden zur Einsparung von Kräften nur wenig Defensivvorbereitungen getroffen
- wurden an der Westgrenze in großer Zahl Flugplätze und Nachschublager angelegt
- erfolgte eine Umstellung der Ausbildung von Truppen und Stäben fast ausschließlich auf Angriff
Nach Dr. Schwipper lassen die vergleichenden Zeitbilanzen von Wehrmacht und Roter Armee nur einen Schluss zu – die Rote Armee agierte, die Wehrmacht reagierte und trat notgedrungen zum Angriff an, bevor sich die rote Lawine auf Europa in Bewegung setzte.
Einen deutschen „Überfall“ auf eine arg- und wehrlose Sowjetunion hat es insofern nie gegeben.
Bernd Schwipper: Deutschland im Visier Stalins: Der Weg der Roten Armee in den europäischen Krieg und der Aufmarsch der Wehrmacht 1941, Gilching: Druffel & Vowinckel. 2015. 552 S., 24,80 €