Können auch große Geister sich irren? Können sie, und im Falle der „Ode an die Freude“ von Friedrich Schiller hat dieser Irrtum die Konsequenz, daß Schillers Gedicht in der berühmten Vertonung von Ludwig van Beethoven so etwas wie die „Hymne der Willkommenskultur“ geworden ist. Obwohl Schiller als deutscher Dichter schlechthin gilt, richtet sich die Ode in keiner Weise an die Nation, sondern pflegt offen den Menschheitsgedanken. Friedrich Schiller schrieb die Ode im Sommer 1785 für die Tafel der Dresdner Freimaurerloge „Zu den drei Schwertern“. Inwieweit sich die Geldsorgen des Poeten und die Freimaurerei des Mäzenaten hier begegnen, ist die Frage. Jedenfalls hat sich Schiller sogleich wieder distanziert: „Die Neigung zu diesem Gedicht mag sich auf die Epoche seiner Entstehung gründen: Aber dies gibt ihm auch den einzigen Wert, den es hat, und auch nur für uns und nicht für die Welt, noch für die Dichtkunst.“
Wie andere Freimaurerlyrik dieser Zeit beschreibt „An die Freude“ die Utopie einer Brüdergemeinde, die sich der Zwänge von Staatsgrenzen entledigt haben. Die Ode wurde in Logenkreisen rasch populär und erlebte um die fünfzig Vertonungen, davon eine in der 1824 uraufgeführten Neunten Symphonie Beethovens. An dieser bezaubernden Musik mag es liegen, daß Generationen von national gesinnten Deutschen bei besonders festlichen Gelegenheiten stets die „Ode an die Freude“ angehört haben, völlig unbekümmert um die offensichtlich freimaurerische Botschaft. Die Formulierung „diesen Kuß der ganzen Welt“ ist wohl die sentimentalste Verklärung des Globalismus und, „alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flüge weilt“ paßt direkt in das heutige „Flüchtlingsethos“ hinein.
Gerade beim Bildungsbürgertum galten und gelten Friedrich Schiller und Ludwig van Beethoven als Inbegriff deutscher Kultur. Zumindest was die Hymne anbetrifft, muß man sich von dieser Vorstellung frei machen. Der Text entstammt nicht nur der Freimauererei, sondern dient auch heute politisch eindeutigen Zwecken. So wird das Opus der beiden Deutschen bekanntlich als Europahymne verwendet. Der Politiker Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, Freimaurer und Gründer der „Paneuropa-Union“, schlug es erstmals 1955 dafür vor. 1972 nahm der Europarat den Vorschlag an, allerdings als Instrumentalversion – angeblich um keine europäische Sprache zu bevorzugen. 1985 wurde das Stück zur Hymne der Europäischen Union erklärt.
Wie das verstanden wird, demonstrierten beispielsweise im November 2015 Mitglieder des Mainzer Staatstheaters. Sie sangen die Ode vom Balkon des Theaters, um einer auf demVorplatz stattfindenden AfD-Kundgebung ihre „Weltoffenheit“ entgegenzusetzen.
Wem das „Freude schöner Götterfunken“ schon immer etwas kosmopolitisch vorkam, darf sich jedenfalls durch diese Hintergründe bestätigt finden. Das traditionelle Silvesterkonzert sollte künftig mit einem anderen Chorwerk aufwarten.