Als der III. Weg den Autorenwettbewerb ausgerufen hatte, welcher die Thematik „Europa“ abhandeln solle, gedachte ich zuvorderst, eine Abhandlung über die historische Bedeutung dieses großen Kontinents für die Menschheitsgeschichte abzufassen. Doch nach einiger Zeit des Überlegens, entschloß ich mich, dies nicht zu tun. Stattdessen möchte ich mit dieser Schrift eine persönliche Offenbarung liefern. Ich will schreiben, was Europa für mich persönlich als Individuum bedeutet. Was heißt Europa für mich, ein einzelnes Individuum, welches sich in einer langen Kette aus Individuen einreiht, welche meine Vorfahren waren? Was gibt mir dieser Kontinent, welcher meine Heimat ist? Oder ist er überhaupt meine Heimat? Ist nicht vielmehr nur ein Teil von ihm meine Heimat, nämlich der Teil, welchen ich mein Vaterland nenne?
Zum erstenmal ernsthaft mit dem Begriff Europa kam ich in meiner späten Jugend und frühem Erwachsenenleben in Kontakt. Freilich hatte man schon oft von Europa in der Schule gehört. Man hatte einen Überblick über seine Geschichte erhalten und sich im Unterricht mit der europäischen Geistesgeschichte befasst. Doch oftmals, so ist dem leider, fehlt dem jungen Menschen in dieser Zeit die nötige Reife, um das Ganze in seiner unglaublichen Dynamik, welche sich im Laufe der Jahrtausende entwickelt hatte, zu begreifen. Europa als ein festes Gebilde, welches für mich persönlich Bedeutung hat, entwickelte sich für, als ich mich vermehrt mit Philosophie und klassischer Literatur auseinandersetzte. Mein Interesse für Historie tat dem keinen Abbruch – im Gegenteil, es beflügelte meinen Drang, mehr über diesen sagenhaften Kontinent zu erfahren, viel mehr. Mich faszinierte die europäische Geschichte, ihre Höhen und Tiefen, ihre Stunden der Verzweiflung und Bedrängung, ihre Siege und Errungenschaften. Das Kennenlernen Europas als innerer Reifeprozess war für mich von unglaublicher Bedeutung.
Denn Europa, das ist mehr als nur eine Landmasse mit einer Geschichte, wie es sie überall auf der Erde gibt. Europa ist die Landmasse mit der Geschichte überhaupt. Im alten Griechenland wurde das geboren, was man klassisch als Kultur bezeichnen kann. Die Griechen schenkten uns die Philosophie und die ersten großen literarischen Werke der Geschichte. In keiner gut bestückten Bibliothek, die den Namen verdient haben will, dürfen die Werke des Homer fehlen. Die ersten Philosophen prägten in kaum zu überschätzender Weise die geistige Weiterentwicklung der Menschheit. Noch immer begeistern uns die platonischen und aristotelischen Gedanken. Die alten Tempel und Ruinen verzaubern und entführen uns in vergangene Zeiten.
Dieses unsterbliche Faszinosum durchzieht sich für mich durch sämtliche Jahrhunderte. Von der Geburt Europas bis in unsere Tage. Ich denke an, wie bereits erwähnt, an die antiken Philosophen und die Entstsehung des Staatsdenkens. Ich sehe das römische Weltreich vor mir, welches grausam und gnadenlos in fremde Länder einfällt, um seinen Wirkungsbereich zu erweitern. Zugleich sehe ich die römische Baukunst. Ich sehe Cicero brennende Reden halten Plinius Briefe schreiben. Juvenal schleudert seine Satiren wider die Gesellschaft und Ceasar geht als einer der größten Staatsmänner in die Geschichte ein, dessen Einfluss noch bis in die Zeit des Faschismus reichen soll.
Ich sehe den Aufstieg der katholischen Kirche, welche die Geschichte Europas massgeblich bestimmen sollte. Augustinus verfasst seine Confessiones, Thomas von Aquin erforscht das Wesen der Wahrheit, Wilhelm von Ockham das der Logik. Die Päpste kämpfen gegen die Kaiser, die Kaiser gegen die Päpste. Gemeinsam kämpfen sie gegen die äußere Bedrohung durch den Mohammedismus. Meist auf kriegerischem Wege, doch manchmal auch auf geistigem – so etwa Papst Pius II. mit seiner Schrift Epistola ad Mahumetem.
Ich sehe das Mittelalter, welches in keinster Weise „dunkel“ war. Ich sehe eine besondere geistige Blüte, welche sich natürlich von der antiken Geisteskultur verschärft unterscheidet und doch mit dieser eine sonderbare Form der Symbiose einging. Im Kloster Mont Saint-Michel wird Aristoteles von einem griechischen Mönch ins Lateinische übersetzt (dies, wohlgemerkt, bevor die Aristotelischen Schriften aus dem Arabischen nach Europa kamen).
Ich sehe die Pest in Europa wüten, welche eine nicht mehr bestimmbare Menge an Menschenleben fordern soll.
Ich sehe die Renaissance in Europa erblühen, jene Epoche unglaublicher Blüte. Michelangelo, Da Vinci, Dürer, Raffael, Grünewald und viele weitere bereichern uns mit ihren künstlerischen Werken. Die Medicis in Florenz zeigen uns, was mit geschickter Geldpolitik machbar ist. Machiavelli schreibt seine berühmten politischen Werke, welche bis heute gleichermaßen bannen und abstoßen. Dante schenkt uns seine Göttliche Komödie.
Ich sehe jene Epoche, welche man „Aufklärung“ nennt, dabei jedoch vielmehr verdunkelte als erhellte. Eine Zeit, welche großen Männern unserer Geschichte die Möglichkeit gab, sich zu beweisen. Joseph de Maistre und Louis de Bonald verteidigen die europäische Kultur gegen die Französische Revolution. Fürst von Metternich tritt auf den Plan und versucht, das nicht mehr rettbare vor dem Untergang zu bewahren.
Ich sehe das 19. Jahrhundert, welches nicht nur Europa, sondern den ganzen Erdenkreis verändern sollte. Die Industrielle Revolution wirft etliche Überzeugungen über den Haufen. Die Maschine tritt ihren Siegeszug an. Jenes Jahrhundert soll überhaupt das großer Entdeckungen und Erfindungen sein. Doch auch geistig werden viele traditionelle Festungen eingerissen. Schopenhauer, Hegel, Fichte, Nietzsche.
Im 20. Jahrhundert soll endlich der große Kampf zwischen dem Europäischen und dem Anti-Europäischen ausgetragen werden. Im ersten großen Kampf von 1914-1918 findet der erste militärische Schlagabtausch statt, welcher im zweiten von 1939-1945 entschieden wird. In seinen Stahlgewittern gibt uns Ernst Jünger einen jener infernalischen Einblicke. Währenddessen, dazwischen und danach geht die Schlacht auf geistiger Ebene weiter. Es geht um die Seele Europa selbst. Es ist ein Kampf zwischen jenen, die die Zivilisation selbst erhalten wollen, und jenen, für die nichts wahr ist. Denn Europa selbst ist die Zivilisation. Ohne Europa gibt es keine Kultur, keine Geschichte, keinen Wert, die den Namen verdient haben.
Europa – das ist mein Atlantis, mein Hyperborea. Es nährt mich. Es haucht mir Leben ein. Es gibt mir Sinn. Es führt mich in olympische Höhen und zeigt mir die Tiefen des Hades.
Schließen möchte ich mit den Worten des Schweizer Schriftstellers Gonzague de Reynold (1881-1970), welcher sein Leben der Verteidigung der Aristokratie und Bekämpfung des Liberalismus widmete:
„Europa ist die Kultur. Es gibt zahlreiche Formen von Kultur. Aber die europäische Kultur ist die einzige, die einen absoluten Wert und eine universale Bedeutung besitzt.“