Nach den beiden großen Demonstrationen in Berlin sowie der medial etwas untergegangenen Kundgebung in Konstanz rief das Querdenken-Bündnis nun nach Leipzig. Es sollte die nächste große Demonstration gegen die Corona-Verordnungen der Bundesregierung werden. Mitten im „lockdown-light“ sollte sie noch zusätzliches Mobilisierungspotential entfalten und die öffentlichen Gemüter spalten. Gerade in Leipzig, der Hochburg der militanten Antifa in und um den Stadtteil Leipzig-Connewitz, versprach diese Veranstaltung brisant zu werden. Ziel der Initiatoren war es, an den Mythos der Proteste des 9. Oktober 1989 anzuknüpfen, in denen in Leipzig rund 70.000 DDR-Bürger ihren Unmut über das politische System und den Repressionsapparat kundtaten. Die Bilder wurden damals außer Landes geschmuggelt und entfalteten einen Flächenbrand, der weitere Proteste in der DDR hervorrief. Man spricht hier auch vom „turning point“ in der Geschichte der DDR. Eine ähnliche Wirkung versprach man sich nun also auch seitens des Querdenken-Bündnisses. Dies, so kann vorab festgestellt werden, ist nicht eingetreten.
Leipzig = Berlin = …
Die Eindrücke aus Berlin[1] fanden in Leipzig ihre Vertiefung. Zunächst bot sich ein buntes Bild einer großen Menschenmenge auf Seiten des Protestbündnisses. Es kann angenommen werden, dass die Erwartungen von 20.000 Demonstranten übertroffen wurden.[2] Viele normale Bürger dominierten das Bild auf dem Augustusplatz, zudem einige politische Gruppen und Parteien, Hippies, Religionsgruppen und Elternverbände. Hinzu kam eine ernstzunehmende Gruppe aus dem Fußballspektrum, welche schätzungsweise 400-500 Hooligans umfasste. Durch das szenetypische Auftreten der Gruppen, welches von Linksautonomen äußerlich nicht zu unterscheiden ist, kam es hier immer wieder zu Irritationen bei den Querdenkern, welche teilweise dachten, dass sich nun die Antifa zu ihnen gesellt hätte. So wurden die Fußballfans auch mit einem „Hallo liebe Antifa“ vom offiziellen Lautsprecherwagen der Querdenken-Initiative begrüßt, was zu sichtlichem Unmut führte.
Vor diesem bekannt-bunten Protestbild begann die Kundgebung pünktlich mit den Redebeiträgen. Logistisch war das Bündnis wieder gut aufgestellt, die Lautsprecheranlage und das Bühnenbild waren äußerst professionell. Diese Professionalität spiegelte sich leider nicht in den Redebeiträgen wider, welche zu großen Teilen improvisiert wirkten und wenig informativ waren. Auch der dargebotene Sprechgesang mit wummerndem Bass eines 12-jährigen Schülers, der kurz zuvor ebenfalls eine Rede hielt, wirkte befremdlich. Es darf gefragt werden, ob es sinnvoll ist, so junge Menschen hier in das politische Rampenlicht zu stellen.
Zunehmend anstrengend wurde es dann als Markus Haintz und sein Anwältegespann nicht müde wurden, die Teilnehmer an die Maskenpflicht und die einzuhaltenden Abstände zu erinnern. Teilweise wurden sogar Redebeiträge unterbrochen, wodurch sich eine zunehmende Spannung zwischen Versammlungsleitung- und Moderation sowie den Teilnehmern ergab. Es gab vereinzelte Pfiffe und Buh-Rufe sowie „Wir sind das Volk“-Gegenrufe aus der Menge. Den Teilnehmern hing es sichtlich zum Halse heraus, sich den vom System vorgegebenen Auflagen zu fügen und sein eigenes Programm dafür zu opfern. Dies war bereits im Vorfeld dadurch geschehen, dass man erneut zu einer stationären Kundgebung anstelle eines Protestzuges durch die Leipziger Innenstadt gezwungen wurde.
So bot Leipzig, wie Berlin, erneut ein Paradebeispiel für die Wirkungslosigkeit eines kopf- und willenlosen Protestes. Das Regelwerk des Systems führte zur Spaltung innerhalb der Reihen. Während die Versammlungsleitung den Demonstrationsteilnehmern glauben machen wollte, dass ein Einhalten der Auflagen eine Auflösung der Versammlung verhindern könne, wollten diese sich nicht länger den Spielregeln des Gegners unterwerfen – eine durchaus nachvollziehbare Reaktion in Anbetracht der gegenwärtigen politischen Situation.
Es muss festgestellt werden, dass die Versammlungsleitung auf ganzer Linie versagt hat, sich diesen Unmut der Massen zunutze zu machen. Dies verdeutlicht die völlige Fehleinschätzung der Situation durch die Veranstalter, welche im Folgenden stichpunktartig skizziert wird.
- Jeder Versammlungsleiter hat die Pflicht die Mitglieder seiner Versammlung darauf aufmerksam zu machen, sich an die behördlichen Auflagen zu halten. Es liegt jedoch in seinem Ermessen, mit welcher Vehemenz und welcher Art er dies tut. Im gestrigen Falle schien es den Anwälten um Herrn Haintz ein außerordentliches Bedürfnis gewesen zu sein, die Teilnehmer zu disziplinieren und dadurch den eigenen Versammlungsablauf erheblich zu stören.
- Es ist ein Irrglaube, dass ein Erfolg des vorauseilenden Gehorsams der Versammlungsleiter einen Abbruch verhindert hätte. Ein Demonstrationszug durch die Innenstadt wurde nicht genehmigt, womit ein massiver Einschnitt in die Demonstrationsfreiheit bereits stattgefunden hatte. Hier zeigt sich erneut die Diskrepanz zwischen „Recht haben – Recht bekommen“, welche dem Leitungsteam scheinbar immer noch nicht ganz klargeworden ist. Dieses Phänomen gleicht der Erkenntnis „Wer sich distanziert, verliert“, da hier die gleichen Wirkmechanismen gleichen. Wer sich auf das Spielfeld der Gegner begibt und die Spielregeln befolgt, wird verlieren.
- Die Macht der eigenen Position wurde seitens der Veranstalter vollkommen ausgeblendet. Fakt ist: Keine Polizeikette hätte einem Mobilisierungspotential von 10.000, 20.000 oder 30.000 Menschen standgehalten. Hiermit ist keine Form der gewalttätigen Auseinandersetzung gemeint. Ganz im Gegenteil: Eine kluge Taktik hätte die späteren Rangeleien und Randale sogar verhindern können. Die Auflösung der Versammlung mit einem entsprechenden Vermerk, dass es friedliche spontane Äußerungen des Protestes geben kann, wären wirkungsvoller gewesen als das Beharren auf den Auflagen. Wenn sich auch nur 5.000 Demonstranten mit erhobenen Armen und „Keine Gewalt“-Rufen (Oder: „Wir sind friedlich, was seid ihr“ etc.) auf eine der Polizeiketten zubewegt hätten, gäbe es für diese nur zwei Möglichkeiten: Die Kette zu öffnen oder Gewalt gegen friedliche Demonstranten auszuüben! Dies bringt uns zu Punkt 4.
- Die Versammlungsleitung hat die Behörden nicht zu einer Entscheidung gezwungen und somit keinerlei Druck erzeugt. Beschriebene Situation des friedlichen Protestes hätte eine unmittelbare Entscheidung der Beamten erfordert, welche in beiden Fällen ein Sieg für die Versammlung gewesen wäre. Entweder hätte man den Demonstrationszug durchführen können oder man hätte vor den Augen aller Welt gezeigt, wie repressiv der Staat wirklich ist. Stattdessen liegt die Deutungshoheit nun wieder bei den Gegnern, welche neben der Auflösung durch Nicht-Einhalten der Auflagen zudem „Ausschreitungen durch Neonazis, Hooligans“ usw. medial verurteilen und ausschlachten können.
- Die Initiatoren des Querdenken-Bündnisses müssen erkennen, dass eine unüberbrückbare Diskrepanz zwischen geltendem und vollzogenem Recht besteht, welche außerhalb des Einflussbereiches ihrer Aktivitäten steht. Aus der eigenen Sicht muss also, sofern alle Rechtsmittel erschöpft sind, der friedlichste Weg des Protestes forciert werden, um auch endgültig sein Recht einzufordern. Es handelt sich hier folglich um keinerlei Aggression, sondern um die Wahrnehmung von Grundrechten.
Durch diese Fehleinschätzung nahm die Veranstaltung einen ohnehin schon durch Chaos und Verwirrung geprägten weiteren Verlauf. Auch hier zeigte sich, dass die Ordnungsbehörden die Eskalation aktiv hervorriefen und nicht an einem geregelten Ablauf interessiert waren. Anstatt die Versammlungsteilnehmer friedlich zum Bahnhof passieren zu lassen, wurden die Zuwegungen komplett abgeriegelt, sodass sich die Massen stauten. Lautsprecherdurchsagen der Polizei verkündeten, dass die Teilnehmer nur in Personengruppen mit bis zu 50 Mann zum Bahnhof durchgelassen werden würden. Durch dieses willkürliche Verhalten baute sich erneut Frust auf, welcher sich dann in vereinzelten Aktionen gegen die Polizei entlud und die von den etablierten Medienvertretern gewünschten Bilder produzierte. Die Sinnhaftigkeit dieser Aktionen darf mehr als bezweifelt werden. Leider erzeugten die Bilder von Pyrotechnik und Feuerwerkskörpern, welche teilweise sogar gegen Personen aus dem Querdenken-Spektrum gerichtet wurden, eher den Eindruck von erlebnisorientierter Wochenendgestaltung und wenig von politischem Willen. Insgesamt kann festgehalten werden, dass sich gerade auch das aktionsorientierte Spektrum aus Fußballanhängern in weiten Teilen als wenig koordiniert gezeigt hat. Dabei hätte gerade dieses allein aufgrund seiner personellen Erscheinung einiges an Potential gehabt, die Route für den friedlichen Protest freizumachen, was stellenweise auch gut funktioniert hat.
Dennoch kam es auch hier im weiteren Verlauf zu interessanten Konstellationen. So ist erstaunlich, dass gerade die Bilder und Videos, welche in den abendlichen Stunden aufgenommen wurden, eine sehr bunte Menge bestehend aus Fußballaktivisten, Bürgern und anderen Protestgruppen zeigt, welche vor den Polizeiketten eingesperrt steht. Auch bei den vereinzelten Demonstrationszügen durch die Innenstadt, welche durch diesen ausharrenden Protest durchgeführt werden konnten, wiederholt sich dieser Eindruck. Es ist also nicht unweigerlich so, dass es hier zu einem Bruch zwischen den Lagern kommen muss. Viel eher können sie sich zur Zielerreichung sinnvoll ergänzen. Dafür bedarf es aber der Einheit in der Wahl der taktischen Mittel.
In Konsequenz zeigt sich hierdurch, dass die Bereitschaft seinem politischen Willen Nachdruck zu verleihen, in den Reihen der Querdenker wächst. Man hat sichtlich keine Lust mehr, sich vom System herumschubsen zu lassen und Auflagenhörig auf Kundgebungen zu verweilen.
Von daher bot Leipzig erneut ein interessantes Bild, welches einige Chancen aufschlug und offensichtliche Probleme innerhalb des Protestbündnisses unterstrich. Sollten diese nicht behoben werden, ist ein Zerfallen der Proteste ein sehr realistisches Szenario. Der erfahrene Besucher politischer Protestkundgebungen muss sich hingegen wie Phil Connors[3] vorkommen: Und täglich grüßt das Murmeltier.
[1] Siehe hierzu den vorausgegangenen Artikel von Tom Dieke: https://gegenstrom.org/berlin-berlin-du-bist-so-wunderbar/ (Stand: 08. November 2020).
[2] Einige Medien, u.a. die BILD, berichteten unter Berufung auf die Organisation „nachgezählt“ von 45.000 Teilnehmern (Siehe hierzu: https://www.bild.de/wa/ll/bild-de/privater-modus-unangemeldet-54578900.bild.html Stand: 08. November 2020).
[3] Der TV-Wetteransager Phil Connors (gespielt durch Bill Murray) ist der Hauptprotagonist der bekannten Filmkomödie „Und täglich grüßt das Murmeltier“, in welcher dieser in einer Zeitschleife festsitzt und ein und denselben Tag immer wieder erlebt.
Quelle: Gegenstrom.org