Zur Geschichte des olympischen Gedankens (Teil 1/3)

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Olympia, mit seinem Wortstamm hindeutend auf den wolkenverhangenen Götterberg der Griechen, von dem einst der Höchste, Mächtigste niederstieg, um auf der Peloponnes zwischen dem Alpheios und der Kladeosmündung die heiligen Spiele unter seinen Schutz zu stellen, diese Stätte, uns als Olympia bekannt, ist der Ausgangspunkt der völkerverbindenden Spiele von heute.

Achtzehn Jahre nach dem Ersten Weltkrieg gingen dahin und nach dem zweiten sogar siebenundzwanzig, ehe der Austragungsort dieser Wettkämpfe deutschem Boden zugestanden wurde. Und doch wissen die Gebildeten in aller Welt, daß außer den Griechen kein Volk ein größeres Recht auf die Olympischen Spiele hat als das deutsche.

Schon seit Winckelmanns Wiederentdeckung der Antike und Goethes griechischen Studien, ja, bereits zwischen seinem Dramenkonzept zum „Prometheus“ und Hölderlins „Hyperion“ hatten hochgesinnte deutsche Männer und Frauen ernsthaft erwogen, wie die alten heiligen Spiele zu beleben seien. Und es blieb in der Folgezeit nicht bei traumhafter Schau.

Noch ist seit Goethes Tod kein volles Jahrzehnt vergangen, da steht, verstaubt und ein wenig ausgemergelt von den wochenlangen Ritten durch Griechenland, ein junger Mann auf der Altis von Olympia; er schaut und schaut. Er hat Trümmer erwartet, umgestürzte Säulen und halbzerstörte Bildwerke, Spuren von dem Glanz einer vergangenen Zeit; aber nicht eine Spur findet er. Olympia hat sich versteckt in jahrtausendalten Schutt und Schlamm des Klaedos. Allein der Ölbaum ist geblieben, silbern und knorrig.

Der junge Mann kommt aus Lübeck, er heißt Ernst Curtius, ist Student der Philologie und Archäologie, fünfundzwanzig Jahre alt und seit zwei Jahren Hauslehrer in Athen. Er hat seine Ferien benutzt, um Griechenland kennenzulernen. Eifrig hat er den Pausanias studiert, und von Pindars Siegesgesängen, die er liebt, weiß er ganze Seiten auswendig. Beide haben ihm in der Phantasie Olympia mit lebendigen Gestalten erfüllt. Aber jetzt, da er endlich hier ist, muß er sich fast gewaltsam seine olympischen Vorstellungen wieder in Erinnerung bringen. Olympia, so wie es jetzt aussieht, steht dem Inbegriff der Olympischen Kunst und der Olympischen Spiele sehr fern.

Trotzdem ist die Begegnung mit dem verlassenen Heiligtum am Fuße des Kronoshügels für Ernst Curtius entscheidend; denn während er sich umwendet, um weiterzuziehen, und die Hufe des Pferdes auf den Bohlen der kleinen Holzbrücke klappern, die über den Klaedos führt, durchfährt Curtius der Gedanke: Man müßte die Tempel und Bilder wieder ausgraben, man müßte Olympia zu neuem Leben erwecken. Und dieser Gedanke läßt ihn sein Leben lang nicht mehr los.

1841 kehrt Curtius nach Deutschland zurück, beendet seine Studien, wird Erzieher des späteren Kaisers Friedrich und endlich Dozent an der Universität Berlin. Griechenland sieht er nicht wieder. Doch am 10. Januar 1852 tritt er auf das Podium der Berliner Singakademie und erzählt seinen Zuhörern von Olympia. Er beginnt mit der Geschichte von Herodot, in der jener die Griechen bei den Olympischen Spielen schildert, während die Perser an der Landesgrenze stehen. Die Worte des jungen Gelehrten zünden. Er spricht zwei Stunden lang, ohne auch nur eine Sekunde langweilig zu werden.

Die Zuhörenden tragen hohe Kragen und enge Schnürleiber, halten von Bildung viel und von Sport nichts. Sie ziehen die Brauen hoch, als Curtius ihnen klarmacht, daß die Griechen, ganz anders, Geist und Leib gleich bewerteten und die Ausbildung beider Kräfte als Gebot der Götter nahmen.

Am Ende vernehmen die Hörer, wie zerstört das alte Heiligtum nun sei und wie verdienstvoll eine Freilegung alter Kultstätten bleibe. Und der junge Gelehrte schließt mit den Worten: „Was dort in dunkler Tiefe liegt, ist Leben von unsrem Leben. Wenn auch andere Gottesboten in die Welt gezogen sind… so bleibt Olympia doch auch für uns ein heiliger Boden, und wir sollten in unsere… Welt hinübernehmen den Schwung der Begeisterung, die aufopfernde Vaterlandsliebe, die Weihe der Kunst und die Kraft der alle Mühsale des Lebens überdauernden Freude.“

Unter den Zuhörern war auch der König von Preußen, Friedrich Wilhelm IV: Am nächsten Morgen besuchte er seinen Freund, den Naturforscher Alexander von Humboldt, der eines Schnupfens wegen den Vortrag hatte versäumen müssen. Er wollte dem alten Herrn wenigstens von diesem „genußreichen Abend“ berichten, der ihm, wie der König sich ausdrückte, so geholfen habe, die Sinnesart der Griechen zu verstehen und das, „was das Gefühl für das Schöne in einem Volk hervorbringe“. Beim Abschied sagte Friedrich Wilhelm, und es klang mehr nach Ernst als nach Scherz: „Nun werde ich mit einer Sparbüchse herumgehen und für die Ausgrabungen sammeln.“ Aber Preußen war damals arm, und von teuren Ausgrabungen konnte keine Rede sein. Doch zwanzig Jahre später, als der Krieg gegen Frankreich beendet und das Deutsche Reich gegründet war, erinnerte Curtius die nunmehr kaiserliche Familie in Berlin an Olympia. Seine eigene Erinnerung an den Ort war inzwischen über 30 Jahre alt, seine Begeisterung aber für den Plan, Olympia wieder auszugraben, nicht einen Tag älter geworden. Und Curtius sprach wiederum so überzeugend, daß das Kaiserhaus einsah, „es wäre ein schöner und sinnvoller Beginn für unser neugegründetes Reich, als erste Friedenstat Olympia der Welt wieder sichtbar zu machen“.

Weniger optimistisch sahen die Griechen aus, als der Plan ihnen unterbreitet wurde. Sie hatten ihre Gründe dafür. Seit hundert Jahren erlebten sie die Invasion westeuropäischer Gelehrter und Kunstfreunde, die mit Begeisterung, Spitzhacke und Spaten in ihr Land einzogen, den Boden nach Kunstwerken durchwühlten und die heimatlichen Museen in London, Paris und Berlin damit füllten. Im Anfang hatte man sich von griechischer Seite nicht viel dabei gedacht; sollten die Fremden doch den Plunder nehmen, angeschlagene Tonvasen und Marmordamen ohne Kopf und Fuß. Inzwischen aber sah man auch in Griechenland diese tätige Kunstbegeisterung mit andern Augen und war so unfreundlich, die ehrwürdigen Gelehrten als Diebe aus dem Land zu weisen.

Es kostete viel Diplomatisches Hin und Her, den griechischen Behörden klarzumachen, daß es diesmal ganz anders sein sollte. Das Deutsche Reich wollte achthunderttausend Mark, was damals viel Geld war, in die Ausgrabung stecken und Ernst Curtius mit einem Stab verdienstvoller Archäologen entsenden, die das olympische Heiligtum wieder freilegen und, soweit wie möglich, in den alten Zustand setzen sollten. Alle Weihegeschenke, Vasen und Kunstwerke, die nicht länger dem zerstörenden Einfluß der Witterung ausgesetzt bleiben durften, sollten in einem Museum in Olympia aufgestellt werden, das ein reicher Grieche seinem Vaterland zu diesem Zweck schenken wollte.

Das Deutsche Reich verpflichtete sich, sämtliche Funde auf griechischem Boden zu belassen; es wollte nichts für seinen Aufwand, es unternahm ihn um der Ehre willen. Es handelte im Geiste des olympischen Gedankens, um der Wissenschaft zu dienen und durch Wiedererweckung einer lang vergessenen Epoche das moderne Schaffen und Denken anzuregen.

Die Griechen gaben endlich ihre Zustimmung; aber sie blieben mißtrauisch und lange Zeit überzeugt, die Deutschen trieben heimlich doch ein unehrliches Spiel. Noch zwei Jahre nach Beginn der Ausgrabungen erlebte einer der deutschen Archäologen auf einer Gesellschaft in Athen einen Zwischenfall, der ihn ebenso ärgerte, wie belustigte.

Nach einem langen, vertraulichen Gespräch mit einem angesehenen Griechen zog ihn sein Gesprächspartner in die Ecke. „Es bleibt unter uns“, beteuerte er flüsternd, „aber nun spielen Sie mal mit offenen Karten: Wie stellen Sie es eigentlich an, die olympischen Funde aus dem Land zu schaffen, ohne daß auch nur ein einziger unserer Aufsichtsbeamten jemals etwas hat merken können?“.

Sieben Jahre lang, von 1874 bis 1881, arbeiteten die deutschen Archäologen in Olympia. Der Zeustempel und der Heratempel wurden freigelegt, auch die Turnhalle und das Gästehaus, dazu zahlreiche Schatzhäuser, in denen ehemals die Siegerstatuen aufbewahrt worden waren. Vieles war für immer zerstört. Was aber gerettet werden konnte, sprach von Anmut und Adel, von schöpferischer und sittlicher Kraft und machte den olympischen Gedanken wieder leibhaftig greifbar.

 

Fortsetzung folgt…

 

Quelle: Siegfried Bokelmann, Zur Geschichte des olympischen Gedankens, Deutschland in Geschichte und Gegenwart – Heft Nr. 4, Grabert-Verlag Tübingen 1972

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