Und tatsächlich: Vor unseren Augen präsentierte sich ein beinahe gerade verlaufender Weg in angenehmer, ganz dezenter Steigung, welche unsere wackeligen Beine festen Schrittes ihre Funktion einnehmen und eine gewisse Geselligkeit einkehren ließ.
Raum und Zeit vergessend wich so manche Anspannung aus den verhärteten Gesichtszügen der einzelnen Aspiranten, Gespräche und Gelächter lagen in der Luft und als uns die Mitteilung erreichte, in zirka 30 Minuten an einer bewirtschafteten Almhütte mit dem Zwecke der körperlichen Sanierung die Kräfte auffrischen zu können, peitschte schon das erste Lied aus vergangenen Zeiten über die Lippen und in die höhengeschwängerte Luft.
Die letzten Meter zu den rustikalen Bänken unter dem Himmelszelt der Alpenfestung wurden fast wettkampfartig im Sturm genommen. Ein tiefes Durchatmen. Absetzen. Ruhen. Krafterhaltung.
Auf das Beste von einer überaus herzlichen Sennerfamilie mit alpenländischen Leckerbissen versorgt, wurden die ersten Stunden dieser einzigen und einzigartigen Willensabfrage ausgewertet und analysiert. Es bestand kein Zweifel, spurlos gingen die bis dahin erlittenen Eindrücke wohl an keinem von uns vorüber. Und keiner der Anwesenden trachtete danach, seine durch das alpine Gelände hervorgerufenen ersten Narben zu verbergen.
Während wir uns also regenerierten, lenkte die Aufmerksamkeit unsere Augen empor zu einer unglaublich brachial anmutenden Fläche, die alles Mögliche sein mochte, nur nicht ein eventueller Weg zu unserem Tagesziel. Zumindest konnten und vor allem wollten wir uns das nicht vorstellen. Allein der uns zugewiesene Gruppenführer zertrümmerte jeglichen hoffnungsvollen Gedanken auf eine „humane“ Umgehung dieses von enormer Ausgesetztheit und Steilheit geprägten Anstieges. Das soll unser Weg nach Oben sein? Und tatsächlich. Weit entfernt liegende, kleine, sich mühsam bewegende Punkte in diesem weglosen und absolut unwirtlichen Gelände ließen es uns ernüchternde Gewissheit werden: Das war die sich in zäher Widerstandskraft dem Gipfel nähernde Frontgruppe.
Jeder, der wusste, aus welchen vollkommenen körperlichen Gebirgsmaschinen sich diese erste Truppe, diese Speerspitze des Unternehmens Gipfelsturm zusammensetzte, wünschte sich in Anbetracht dieses einzigen Kampfes des Willens und der Muskeln gegen einen schier unüberwindbaren Berganstieg mit Sicherheit an jeden Ort der Welt, jedoch nur nicht in dieses Feld hinein. Denn wie ein schwermütiger Wurm erweckte die Frontgruppe den Eindruck einer Formation, welche einen Schritt vorwärts, doch zwei Schritte zurück zu wanken schien. Der Funkspruch des Gruppenführers der Nachhut schließlich gab uns den Rest: „Esst reichlich und trinkt viel, denn an der bevorstehenden Schlüsselstelle wird es nicht viel Zeit und Reserven dafür geben.“ Oder, um eine Parallele zu den Worten des großen Spartiatenführers und Königs von Sparta, Leonidas, aus der bekannten Szene des Hollywood-Streifens zu ziehen: „Bereitet euer Frühstück und esst tüchtig, denn heute Nacht speisen wir in der Hölle!“
Kaum verschluckte das Rauschen der Funkgeräte die letzten Silben des fast als Drohung wahrgenommenen warnenden Hinweises, welches vom Gruppenführer unseres Mittelabschnitts bestätigt wurde, griffen alle Freiwilligen nochmal kräftig zu und benetzten ihre Kehlen mit dem frischen Quellwasser des Hochgebirges, ehe ein erneutes „Abmarschbereitschaft herstellen“ die letzten Anflüge von Geselligkeit beseitigte und sich maximal eine verschlagene Art von Galgenhumor den Weg in und durch unsere Gedanken und Köpfe bahnte.
Die Frontgruppe freilich war bereits längst unseren nicht mehr allzu aufmerksamen Blicken entschwunden und kämpfte sich, von einer dichten Nebelwand verschlungen, wohl geschwächten Schrittes, wenn schon nicht wirklich dem Gipfel entgegen, so doch mindestens den Abstand zwischen sich und uns vergrößernd, auf einem Weg entlang, der keiner war.
Endlos hätten wir uns noch der Gastfreundschaft von Sennerin und Senner hingeben können, allein der Gipfel rief uns donnernder aus unserer Wunschvorstellung als der aufgebrühte Kaffee in unseren Feldbechern unser Duftempfinden einzunehmen sich anschicken konnte.
Konnte unsere Wahrnehmung noch eine Sinnestäuschung suggerieren, so zerschlug der erste Gang in diese grüne Wand jeden Zweifel über unseren Verdacht, dass hier offensichtlich keinerlei Serpentinen angelegt waren und wir uns unter unseren Schritten selbst welche zu formen hatten. Was hier folgte, war der mit Abstand härteste Abschnitt des gesamten bisherigen Geschehens. Motivationssprüche hin, innerliches „in sich hinein fluchen“ her, es gab hier keinen Ausweg aus dieser grünen Hölle als jenen einzigen, der da hieß: Empor! Und seien es eben nur zwei Schritte vor und einer zurück.
Dann, endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit durch ein Universum voll des zermürbenden Kräfteverschleißes, ein Lichtblick. Und das im übertragenen Sinne. Denn die letzten Ausläufe der Nebelfestung verblassten im Bann der am Horizont thronenden Sonne, die uns den Blick auf das Wesentliche dieser Expedition freilegte: Den Blick auf unsere eigenen körperlichen Grenzen. Und auf den sich vor uns auftürmenden Hauptgipfel, zwischen dessen und unserer Position sich eine endlos erscheinende öde Steinwüste erstreckte.
Doch all diese bizarr anmutenden Gesteinsformationen nahmen wir nach unserer ganz persönlichen „Rupalwand“ als willkommene Abwechslung und als Geschenk für unsere schmerzenden Beine an, wissend, dass uns noch ein vor allem geistiger Frontabschnitt bevorstand, welcher sich nicht allein durch bloße Muskelkraft bewältigen lassen würde.
Noch ein Wort des Mutes aus der Ansage des Gruppenführers. Die ermatteten Sinne geschärft. Der Rücken in aufrechter Haltung und das Leuchten des Antlitzes trotzig der Gipfelspitze entgegen geschmettert.
Eine Parole nur: Wir sind bereit!
Teil 3 in Kürze…
Zum Nachlesen: Teil 1