In Tradition und Brauchtum werden die Erfahrungen von Jahrtausenden weitergetragen. Ein Volk, das vor diesen überkommenen Traditionen und Bräuchen keine Ehrfurcht mehr hat, hat keine Zukunft. Eine jede Zeit, mag sie sich auch noch so groß empfinden, mag sie sich auch noch so selbstständig dünken, steht doch auf den Schultern der Vergangenheit. Im Bewusstsein, dass das deutsche Brauchtum das Fundament ist, dessen unser Volk nicht entbehren kann, um seine Zukunft zu gestalten, führt unsere Bewegung auch einen kulturellen Kampf, der untrennbar mit der Pflege alten Brauchtums verbunden ist.
Baden-Württemberg verfügt über eine lebendige Fest- und Brauchtumskultur. Eine ungeheure Vielfalt an unterschiedlichsten Traditionen, die ihren Ursprung zum Teil in grauer Vorzeit haben. Andere Feste und Bräuche sind dagegen nur ein paar hundert Jahre alt oder existieren nicht länger als zwei Generationen. Doch egal wie alt bestimmte Tradtionen und Bräuche sind, aus dem Leben der Baden-Württemberger sind diese nicht mehr wegzudenken. Die Deutschen im Ländle sind stolz auf ihre Traditionen und pflegen das Brauchtum ihrer Heimat mit Begeisterung. Die Art der Feste und Bräuche ist so unterschiedlich wie Baden-Württemberg selbst, von würdevollen Prozessionen bis zu ausschweifenden Fastnachtsbräuchen.
Seit mehr als 660 Jahren residiert in der nordwestlich des Bodensees gelegenen Stadt Stockach das „Hohe Grobgünstige Narrengericht“. Das Narrengericht findet jährlich jeweils am Donnerstag vor Aschermittwoch, dem sogenannten „Schmotzigen Dunschtig“ statt, mit dem die schwäbisch-alemannische Fastnacht beginnt. Handelte es sich in früheren Zeiten bei den Angeklagten um einfache Bürger, deren Missetaten öffentlich verlesen wurden, wird heute jeweils eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens angeklagt.
Die Tradition geht auf ein Ereignis zurück, das sich vor der Schlacht am Morgarten im November 1315 abgespielt haben soll. Bewohner des Dorfes Steinen in der Nähe von Schwyz hatten im Jahr zuvor das Kloster Einsiedeln überfallen. Die Schwyzer lagen bereits seit längerem im Streit mit dem Kloster, wobei den Auseinandersetzungen unterschiedliche Ansichten über Nutzungsrechte für Wald, Feld und Flur zugrunde lagen. Schwyzerische Siedler hatten sich im Laufe der Zeit in Waldstücken niedergelassen und diese urbar gemacht, die dem Kloster Einsiedeln gehörten, von diesem jedoch nicht genutzt wurden.
Im Jahr 1313 besetzten Schwyzer Bauern erneut Alpweiden und Wälder, die zum Besitz des Klosters gehörten. Der Abt des Klosters verklagte daraufhin die Schwyzer beim Bischof von Konstanz, der über diese den Kirchenbann verhängte. Hierdurch wurde der Durst nach Rache bei den Schwyzer Bauern geweckt, die in der Dreikönigsnacht im Januar 1314 das Kloster Einsiedeln überfielen und plünderten. Die Klosterkirche wurde geschändet und die Mönche in mehrmonatige Geiselhaft genommen. Als Schutzherr des Klosters versammelte Herzog Leopold I. von Habsburg ein Heer, um gegen die aufmüpfigen Bauern zu ziehen.
Der Herzog marschierte mit seinen Truppen bis nach Ägeri und hielt dort Kriegsrat mit seinen Heerführern. Um in das Land Schwyz zu gelangen, beschloss man, über den Morgarten nach Sattel zu marschieren. In Diensten des habsburgischen Herzogs Leopold stand zu besagter Zeit der Hofnarr Kuony von Stocken, der aus der damaligen kleinen Amtstadt Stockach stammte. Leopold befragte seinen Hofnarren, wie ihm der Rat seiner Heerführer gefalle. Kuony entgegnete, dass ihm der Rat übel gefalle. Der Hofnarr legte Leopold ans Herz, nicht darüber zu beratschlagen, wie man in die Schlacht hineinkäme, sondern wie man wieder aus der Schlacht hinauskäme: „Da hand ir all geratten wa ir in dasz land koment, aber keiner hat geratten wa ir her wider usz koment.“ Der Ratschlag Kuonys wurde jedoch nicht berücksichtigt.
Am Ägerisee unterhalb des Morgartenberges traf Leopold mit seinen Gefolgsleuten auf die Schwyzer. Völlig überraschend besiegten diese das Heer des Herzogs. Die Schlacht am Morgarten endete für Leopold von Habsburg mit einer vernichtenden Niederlage, der Herzog konnte wenig mehr als sein nacktes Leben retten.
Der Habsburger erinnerte sich des weisen Rats seines Hofnarren, weshalb er diesem einen Wunsch gewährte. Kuony erbat sich das Vorrecht, jährlich in seiner Heimatstadt Stockach ein Narrengericht von den Einwohnern abhalten lassen zu dürfen. Leopold entsprach der Bitte seines Hofnarren, verstarb jedoch 1326, noch bevor er diese Angelegenheit regeln konnte.
Kuony wandte sich daraufhin an dessen Bruder und Nachfolger Herzog Albrecht den Weisen, der ihm das gewünschte Privileg schließlich im Jahre 1351 zugestand. Kuony brachte das Privileg in Form einer Urkunde nach Stockach, die fortan in der Säule eines Brunnens aufbewahrt wurde. Der Legende nach wurde das Narrengericht erstmals in diesem Jahr abgehalten, in lokalen Aufzeichnungen ist das Narrengericht jedoch erstmals im Jahre 1661 belegt. Die Originalurkunde mit dem Privileg existiert nicht mehr, wohl aber eine Abschrift aus dem Jahr 1743, die sich auf eine Vorlage von 1687 stützen soll, die wiederum auf dem Originaldokument beruht. Ob die Abschrift aus dem Jahr 1743 inhaltlich dem Original entspricht, läßt sich nicht sicher entscheiden.
Ob es Kuony von Stocken tatsächlich gegeben hat, ist völlig ungeklärt, wie bei so vielen Gestalten aus anderen Legenden auch. In habsburgischen Akten und Urkunden der Zeit bleibt der Hofnarr unerwähnt, ebenso in den Akten des Stockacher Stadtarchivs. Die Figur des Hofnarren Kuony taucht erstmalig in Heinrich Wittenweilers Dichtung „Der Ring“ aus dem Jahr 1415 auf. Kurze Zeit darauf entwickelt sich die Geschichte um den Hofnarren zu einem festen Bestandteil der Berichte über die Schlacht vom Morgarten in verschiedenen Schweizer Chroniken, neben anderen in der Berner Chronik (1483), der Tschachtlanchronik (1483) und der Spiezer Chronik (1485). In den bildlichen Darstellungen verschiedener mittelalterlicher Chroniken erscheint Kuony von Stocken abwechselnd mit den typischen Attributen eines Hofnarren mitten in der Schlacht, als fiedelnder Geigenspieler und im Schellengewand mit Eselsohren.
Angeführt wird das Narrengericht, welches aus maximal 21 Mitgliedern besteht, vom Narrenrichter. Weitere Ämter umfassen den Laufnarrenvater, den Kläger, den Fürsprech, den Säckelmeister sowie den Narrenschreiber. Der Narrenrichter entscheidet gemeinsam mit dem Kläger und dem Fürsprech über die im jeweiligen Jahr anzuklagende Person, seit 1965 stets einen Vertreter aus Bundes- oder Landespolitik.
Der Angeklagte wird zur Verhandlung des Narrengerichts am „Schmotzigen Dunschtig“ vorgeladen, Absagen vonseiten des Angeklagten kommen äußerst selten vor. Nachdem der Kläger seine Anklageschrift formuliert hat, übergibt er diese dem Fürsprech, der darauf aufbauend seine Verteidigung ausarbeitet. Klage- und Fürsprachetext werden dem Angeklagten vor der Verhandlung ausgehändigt.
Die Hauptverhandlung am „Schmutzigen Donnerstag“ findet vor zahlreichen Zuschauern in einer Halle in Stockach statt und wird von regionalen Fernsehsendern übertragen. Nach Anklage durch den Narrenkläger und Verteidigung durch den Fürsprech erhält der Beklagte die Gelegenheit, sich im Rahmen eines öffentlichen Auftritts selbst zu verteidigen.
Das Urteil wird schließlich durch den Narrenrichter gefällt, der je nach Schwere der Schuld eine Strafe in Höhe von einem oder mehreren Eimern Weines verhängt, die bis zum Lätare-Tag abgeliefert werden müssen. Bei einem „Eimer“ handelt es sich um ein österreichisches Hohlmaß von etwa 60 Litern. Die Gerichtsverhandlung ist von herzhaftem Spott geprägt, der jedoch nicht bösartig ist und den Beklagten mit Respekt behandelt. Das Stockacher Narrengericht ist fester Bestandteil der schwäbisch-alemannischen Fastnacht und zieht Aufmerksamkeit weit über Stockach und dessen unmittelbare Umgebung hinaus auf sich.