Jede Dorfmitte in der Region ist mit einem Maibaum geschmückt, der festlich von der Dorfgemeinschaft aufgestellt wird. Der Maibaum gehört wie viele andere Traditionen zur Selbstverständlichkeit im Bayerischen Wald, der sich in Ostbayern an der Grenze zum einstigen deutschen Böhmen dahin schlängelt. Der Jahreslauf ist voll von verschiedenen erhaltenen und gelebten Gepflogenheiten. Beginnend mit dem Neujahrsanblasen über verschiedene Oster- und Pfingstbräuche, der Walpurgisnacht bis hin zu den winterlichen und schauderhaften Rauhnächten. Und auch im Juni flammen zahlreiche Sonnwendfeuer auf, was von örtlichen Gemeinden und Vereinen organisiert wird. Nicht zu vergessen sind auch die zahlreichen Volksfeste, welche die Herbst- und Sommerzeit begleiten, wie etwa Heimatfeste, Kirchweihen oder eben größere Zusammenkünfte wie am Pichelsteinerfest in Regen oder dem Grenzlandfest in Zwiesel. Selbst in traditionsvergessenen und von der Multikultur überschatteten Zeiten stecken die „Waidler“ – wie man die Eingeborenen bezeichnet – viel Herzblut in die überlieferten Bräuche und Festlichkeiten ihrer Vorfahren. Und auch ansonsten sind sie ein eigener Menschenschlag, wie viele Auswärtige immer wieder festzustellen vermögen, was sich nicht nur durch die Mundart äußert. Sie selbst bezeichnen sich gerne als die Ur-Bayern schlechthin – zumindest sind sie Bewahrer einer bayerischen Lebensart. Die oben genannten Bräuche gibt es nicht nur im Bayerwald, sondern darüber hinaus. Ein Brauch im November hingegen ist einzigartig, weshalb wir diesen unseren Lesern hiermit vorstellen wollen.
Wölfe und Dorfhirten – der Ursprung des Brauchs
Der Wolf, der erst kürzlich wieder für viel Gesprächsstoff im Bayerischen Wald und darüber hinaus sorgte, war einst in ganz Europa verbreitet. Das Raubtier ist auch Gegenstand zahlreicher Märchen, wobei er hier meist nicht gut wegkommt. Als Scharlatan verteufelt wurde er aber nicht aufgrund seiner Gefahr für die Menschen, sondern weil er eine Bedrohung für das Vieh der Bauern darstellte. So auch im Bayerischen Wald, wo er bis etwa 1850 heimisch war. Zum Schutz der Nutztiere und somit der eigenen Existenz hatten sich die Menschen etwas einfallen lassen müssen. So wurden etwa Wolfstreibjagden durchgeführt und die Dorfhirten, die das Weidevieh von April bis November bewachten, behängten die Kühe mit Glocken, deren Lärm Wölfe und Bären vertreiben sollten und außerdem ein Auffinden verschwundener Tiere leichter machten. Auch eine „Goaßl“ (Peitsche) hatten die Hirten dabei, die zur Führung der Herde und zum Abschrecken wilder Tiere diente.
Im November brachten die Hirten das Vieh wieder zurück in die heimischen Ställe der Bauern. Allgemein war der 11. November, der Martinstag oder hier nur Martini genannt, für die Landbevölkerung ein besonderer Tag. Er beendete die Saison, denn das Getreide war geerntet und die Weidezeit vorüber. Auch die Hirtenpflicht der Dorfhirten war nun vorbei und die Jünglinge kehrten zu ihren Familien zurück. Die Tage, wo die Hirten überwiegend einsam mit dem Vieh in primitiven Holzhütten hausten und Acht geben mussten, dass den Bauern kein Tier abhanden kommt, waren bis zum nächsten Frühling gezählt.
Zeitgleich war dies auch der Zahltag und der Hirte forderte seinen Jahresgehalt vom Bauern ein. Ein Freudentag, in dem die Hirten sich schließlich selbst die Glocken umbanden und mit lautem Gescheppere und Peitschen schlagend durchs Dorf zogen, um das Hirtenjahr sozusagen frohmutig auszuläuten und den Lohn einzuläuten.
Über das „Heischen“ und die Entwicklung des Brauches
Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts lärmten dann nicht nur die Hirten an diesem Tag durch die Dörfer des Regener Landes, sondern beispielsweise auch Knechte, die den Zug der Hirten begleiteten und somit hofften, dass auch für sie etwas dabei abfiel. Das sogenannte Heischen entstand, das für viele arme Leute zu jener Zeit lebensnotwendig war, um über den Winter zu kommen. Heischen bedeutet das Erbitten und Einsammeln von Spenden, als Gegenleistung sagten die „Heischer“ beispielsweise Sprüche auf.
Die zunehmende Technisierung machte spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts den Beruf des Dorfhirten überflüssig und auch die soziale Lage wurde eine andere, sodass das Heischen nicht mehr lebensnotwendig war. Trotzdem bildete sich daraus ein sogenannter Heischebrauch, wie man ihn etwa auch von kostümierten Kindern zu Halloween oder bei den Sternsingern am Dreikönigstag wiederfindet. Das oberste Ziel war es nun, Spenden etwa für die Burschenvereine zu sammeln und eben auf jene Tage der einsamen Dorfhirten und des Lebens mit dem Wolf aufmerksam zu machen. Daran zu erinnern, wie unsere Vorfahren lebten.
Der „Wolf“ und sein „Hirte“ – Brauchtum heute
Bis in die heutigen Tage hat sich dieser Brauch erhalten und ist fester Bestandteil der Region. Gruppen aus verschiedenen Gemeinden schnallen sich jedes Jahr an und um Martini die Glocken um und ziehen geräuschvoll durch die Dörfer und Märkte. Jede dieser Gruppen wird „Wolf“ genannt und selbstverständlich hat jeder „Wolf“ seinen „Hirten“, der die Herde anführt. Hierbei gibt es große Gruppen mit allen Altersklassen, die sich etwa in Bodenmais oder Rinchnach einfinden und auch kleinere Gruppen zumeist mit Kindern und Jugendlichen, die in ihren Heimatgemeinden von Haus zu Haus ziehen.
Gemeinden im Bayerischen Wald die das Brauchtum noch aktiv leben sind unter anderem Langdorf, Schweinhütt, Lindberg, March, Bodenmais, Frauenau, Kaikenried, Kirchberg im Wald, Zwiesel und das Zellertal. Hochburg des Brauchtums ist jedoch der Klosterort Rinchnach – von Einheimischen nur Kloster genannte. Die Gemeinde im Landkreis Regen hält zugleich seit 2009 den Weltrekord im Wolfsauslassen mit insgesamt 1.370 Wolfsauslassern, der jedoch nicht zu Martini, sondern separat am 28. Juni aufgestellt wurde. (YouTube Video mit einem Eindruck vom Weltrekord)
Angeführt vom Hirten, der einen verzierten Hirtenstecken mit sich trägt, marschiert die Truppe unter Geläut durch den Ort und macht Halt bei Häusern und vor allem Bauernhöfen. Dort wird schließlich so lange gescheppert, bis die Tür geöffnet wird. Nach dem Vorbild der Heischer trägt der Hirte seinen Hirtenspruch vor, der sich von Ort zu Ort und Gruppe zu Gruppe leicht unterscheiden kann und auf den Sinn des Brauchtums aufmerksam macht, und fordert – wie damals der Hirte – seinen Lohn in Form einer Spende ein. „Geh Bairin mogst ned schnei einespringa und a Zwiemakl ausabringa“, was soviel heißt wie, „Bäuerin magst du nicht schnell reinspringen und zwei Mark rausbringen“ und je nach Spruch so oder so ähnlich Bestandteil des Gesprochenen ist. Mit kräftigem Geläut bedankt man sich schließlich für die Gabe und zieht weiter. Auch die Goißl findet oftmals ihren Einsatz bei diesem Brauchtum, wenn nicht nur die Glocken für Lärm sorgen, sondern auch das Schnalzen der Peitschen. Gesammelt wird meist für die Dorfgemeinschaft.
Eine Variation des Hirtenspruchs in Mundart:
„Etz kimmt da Hirt mit seiner Giart
und hod des Johr mit Freid ausghiart;
27 bis 28 Wocha is gwis a lange Zeit,
do hod se da Hirta scho lang af Martini g’freid;
is a g’sprunga über Distln und Dorn,
hod na scho sakrisch ind Zehan gfroan;
kimd a hoam, steht a kiesblaue Suppn in da Röhr’n;
kannd a scho narrisch wer’n;
sogtd a wos von am bessan Essen,
haud`n Bairin oane ei in’d Fressn;
sogt a wos vo am druckan Ko;
haut na da Bauer oane afe afs Loh;
Geh Bairin mogst ned schnei einespringa,
und a Zwiemakl ausabringa,
geh, a Zwiemakl is no ned gnua,
duast no a gscheide Brotzeit dazua.
Und ei haue mein Stecka afe am Disch,
dasts wissts, dass heid Martini ist!“
Wolferer-Duelle in Rinchnach
In der Wolfausläuter-Hochburg Rinchnach treffen jedes Jahr am 10. November schließlich zahlreiche Gruppen aufeinander. Jeder Wolf gibt sich die Mühe besonders laut zu sein und besonderen Eindruck zu schinden. Vor allem hier kommen die Goaßl-Schnalzer zum Einsatz, um den sogenannten „Fünfer“ zu zeigen, was heißt, dass fünf Goaßln gleichzeitig im Takt schwingen. Eine Kunst, wenn man bedenkt, dass die für diese Zwecke angefertigten Peitschen eine Stricklänge von 2,5 m bis 5,5 m haben. Wenn alle Wölfe am Dorfplatz eingetroffen sind, beginnen sie die eindrucksvolle Zeremonie des gemeinsamen Läutens und Schnalzens.
Danach geht es in den Gasthäusern weiter, in denen sich die einzelnen Wölfe unterschiedlicher Orte Duelle liefern. Gewinner ist der Wolf, der am längsten und lautesten läutet. Hierbei kann es schon einmal sein, dass sich zwei Gruppen über zwei Stunden hinweg ununterbrochen duellieren. Eine Nacht voller Wettkämpfe, in der – wie in Bayern üblich – auch die Maß Bier und eine gescheite Brotzeit nicht fehlen darf. Die Heimreise wird schließlich erst angetreten, nachdem die müden Knochen am frühen Morgen noch durch ein Kesselfleisch gestärkt wurden.
Durch den mittlerweile zur Tradition gewordenen Konkurrenzkampf des am lautesten Läuten wurden die anfangs eher überschaubar gehaltenen Glocken – die den originalen Kuhglocken mit etwa 20 cm ähnelten – immer überdimensionaler und sind heutzutage bis zu einem Meter lang und an die 40 kg schwer. Ein immenser Kraftaufwand, wenn man bedenkt, dass die „Wolferer“ diese stundenlang umgehängt haben, umhertragen und mit vollem Elan zum Läuten bringen.
YouTube: Bericht eines regionalen Fernsehsenders zum Wolfsauslassen
Nur wer den Hintergrund versteht, kann das Brauchtum sinnvoll erhalten!
Während das Wolfsausläuten oder Wolfsauslassen für viele Waidler den Höhepunkt des volkstümlichen Brauchtumskalenders darstellt, empfinden es andere als Plage. Gerade bei Zugezogenen, die keine innige Verbindung mit dem Bayerischen Wald als Heimat der Vorväter haben, stößt der Brauch auf Unverständnis und es wird sich über den „Lärm“ beschwert. Andere hingegen reisen extra an, um dieses einzigartige Brauchtum hautnah mitzuerleben.
Auffallend ist, dass diesen Brauch ein Teil der Mitwirkenden als bloße Gaudi ansieht, ohne den wirklichen Sinngehalt dahinter zu erkennen. Die Verbindung zu einer Zeit, in der einst unsere Ahnen zumeist als Bauern, Hirten, Knechte oder Mägde lebten, ist oftmals nicht mehr spürbar. Sicherlich ist der Wettstreit der einzelnen Gruppen ebenso zur Tradition geworden, doch sollte im Vordergrund nicht ein immer lauter und immer größer stehen, sondern die Besinnung zu unserem Heimatboden und unseren Ahnen, die das Vieh nicht mit Melkanlagen abgefertigt und das ganze Jahr über in Ställen gehalten hatten, sondern es von Frühling bis zum Spätherbst unter widrigsten Bedingungen auf die Weide getrieben haben. Nur wer den Hintergrund solcher Bräuche versteht, kann das Brauchtum sinnvoll erhalten und es an die nächsten Generationen weitergeben, damit auch diese den Ursprung solcher Traditionen und somit ihren eigenen Ursprung noch erkennen können.
Wer das Spektakel in den Spätherbstnächten um Martini selbst miterleben will, dem sind hierbei zwei Termine empfohlen:
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Großes Wolfsauslasser-Treffen in Rinchnach am 10. November ab 18.30 Uhr
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Wolfsauslassen in Bodenmais am 11. November ab 21.00 Uhr