Schon während der Überwindung dieses surreal anmutenden Steinfeldes wuchs innerhalb unserer Gruppe die mentale Auseinandersetzung mit der nun folgenden Schlüsseletappe, welche anscheinend zum jährlichen Pflichtpunkt dieses ganz besonderen Gipfelsturmes ernannt wurde: Keine Bergunternehmung ohne Klettersteig.
Und Klettersteig heißt in dem Fall: Ausgesetzte Gratüberschreitungen, steile, scharfkantige Felsen, abschüssige Kletterpassagen in exponierter Lage, hunderte Meter talwärts geneigte Sturz – und Fallhöhe und das alles umsponnen lediglich mit einem Drahtseil und ein paar Leiterverbauungen. So weit so gut. Wäre da nicht die über unseren Köpfen schwebende Tatsache, dass nicht wenige von uns noch über gar keine hochalpine Klettererfahrung verfügten, geschweige denn je zuvor einen Klettersteig absolvierten. Die angegebenen einzelnen Schwierigkeitsgrade auf dem Weg zur Spitze glichen unserem Verständnis nach Hieroglyphen. Wir konnten mit ihnen nichts anfangen außer der Vorahnung: Es wird schwer. Und das nicht unbedingt körperlich. Denn wenn man weitestgehend auf sich allein gestellt in einer solch unbekannten Welt aus Fels und Stein im übertragenen Sinne am „seidenen Faden“ hängt, dann ziehen einen neben den sich bis hierhin noch unglaublich schwer anfühlenden 10 Kilo Marschgepäck noch ganz andere Dinge mentaler Ausprägung in die Tiefe, auch wenn dieser seidene Faden aus geflochtenem Stahl bestand. Das Vertrauen in die eigene Ausrüstung wird erstmals auf die Probe gestellt, wenn man ihr sein Leben anzuvertrauen gezwungen ist.
Mit einem Schlag sind alle Gedanken und Grübeleien wie weggewischt. Wir stehen am Einstieg der uns überragenden Felsformation, als nach kurzer Funk-Rücksprache unter den Gruppenführern aller Einheiten die Ansage erteilt wurde: „Klettergurt und Helm anlegen, Stöcke verstauen.“
Auch hier zeigte sich ein ums andere Mal die äußerste Professionalität des gesamten Unternehmens im Detail, als wir in die nun bevorstehende Situation fachmännisch eingewiesen wurden. Klettergurte angelegt, Helm-Adjustierung hergestellt, eine letzte Überprüfung. Sturm! Sturm auf den Gipfel! Klettertechnisch wenig bis gar nicht Versierte werden zwischen erfahrene Hochgebirgskader positioniert und ordnungsgemäß angeleitet. Kein Blick zurück, es gilt nur die Parole: Vorwärts!
Griff folgt auf Tritt, alles hält und sitzt. Und bloß nicht nach unten schauen. Denn trotz Doppelsicherung weiß jeder hier: Manche Unachtsamkeit hat auch schon manchen erfahrenen Glücksritter in die alles verschlingende Tiefe gerissen.
Fassungslos sehen wir zu, wie unser Gruppenführer ohne jedwede Sicherung, einzig auf seine Erfahrung und Muskelkraft vertrauend, sich Meter für Meter den Weg nach oben vornimmt. Ist es Leichtsinn oder heldisches Draufgängertum? Wahrlich, viel Heldentum scheint er darin nicht zu sehen, eher fast schon gelangweilte Routine lässt seine Körpersprache erkennen. Denn gähnend hängt er, sich an einer Sproße der erreichten Eisenleiter festhaltend, über dem blanken Abgrund und wartet in stoischer Gelassenheit, bis auch der Letzte von uns diese vordergründig geistige Schlüsselstelle überwunden hat.
Die Frontgruppe, von uns schon längst am Gipfelplateau erspäht, rüstet sich allem Anschein nach zur Abmarschbereitschaft und die ersten von ihnen haben den Weg über einen weiteren Grat abwärts schon eingeschlagen. Ein Szenario, für uns so nah und doch noch so fern.
Dann, endlich: Der letzte Karabinerhaken klinkt sich am auslaufenden Stahlseil frei, doch die undurchdringbar erscheinende Nebelwand sabotiert jede Sicht auf den eigentlich in Blickweite stehenden Gipfel. Die letzte Etappe sollte sich noch einmal, ganz im Sinne des Namens unserer AG stehend, zur körperlichen und geistigen Zerreißprobe entwickeln. Alle Kräfte waren nun weitestgehend aufgebraucht und ein Augenaufschlag in die Runde bestätigte jede Vermutung: Hier kroch die Truppe mit Masse buchstäblich auf dem Zahnfleisch die letzten steinernen Verwerfungen in Richtung dessen, für das sich hier geschunden und gequält wurde.
Der nicht enden wollende Weg wurde nochmal steiler und steiler, den Freiwilligen alles abverlangend, was an Reserven in irgendeiner Falte eingelagert und nunmehr freigesetzt werden konnte. Raum- und Zeitgefühl schwanden einem Tunnelblick, der die Wahrnehmung und Bewegung der Extremitäten nur noch in Zeitlupe abzuspielen schien. Wie eine lethargische Armee aus Untoten wich unsere Marschkraft der Meterdistanz und konnte lediglich mit viel Liebe wohl nur noch in Zentimetern gemessen werden. Der Anstieg wollte einfach nicht enden und sorgte teilweise sowohl für Schnappatmung, wie auch manches vornüber gebeugtes Verharren an Ort und Stelle.
Wieder war es der Gruppenführer, der das Feuer nochmal entfachte und motivierende Worte für jeden von uns übrig hatte, der sie benötigte. Am sogenannten „Steinernen Mandl“, einer aufgetürmten Steinstele, welche den Gipfel nebst des damit einhergehenden Siegeszeichens markierte, nahm unser Wegbereiter jeden mit den Worten in Empfang: „Ihr wollt den Gipfelsieg? Hier ist er. Holt ihn euch!“ Ein letzter Schritt. Gerade Haltung eingenommen. Kräftiger Händedruck und Anerkennung. Der obligatorische Schlag auf die Schulter. Es ist vollbracht. Berg Heil!
Jetzt gibt es kein Warten und kein Halten mehr. Die einen sinken vor Erschöpfung auf die Knie, die anderen nehmen eine sitzende Position auf den umliegenden Felsen ein. Die völlig auszehrenden Gepäckstücke, ihrer entledigt sich ein jeder sofort. Alle starren ins Leere, noch nicht wirklich realisierend, was sich bis dorthin, an diesem Ort, zugetragen hat. Grenzerfahrung und Ausnahmesituation. Aller Ballast wird abgeworfen, die schmerzenden Muskeln entspannen sich und ein Hauch von Leben fährt durch die müden und morschen Knochen. Der eine ringt nach Worten. Der andere schweigt. Völlige Überwältigung. Der Sieg ist unser. Wir haben es geschafft! Es wird gegessen, getrunken und gelacht. Für viele von uns der erste wahre Gipfelsieg. Wir sind begeistert und stolz. Noch einmal hämmert es in unseren Gedanken: Wir haben es geschafft. Und vergessen dabei für einen Moment ganz und gar, dass wir nicht falscher in dieser Annahme sein könnten.
Denn noch sind wir am Berg. Und so lange er uns nicht freigegeben hat, so lange gehören wir ihm.
Teil 4 in Kürze…