III. Das Verhältnis Carl Schmitt – Reinhard Höhn
Das Verhältnis zwischen Schmitt und Höhn gestaltete sich in vielerlei Hinsicht ambivalent. Zunächst ist festzustellen, dass Höhn’s Denken stark von Schmitt’s Identitätslehre geprägt wurde. Im „Jungdeutschen Staatsvorschlag“ versuchte Höhn durch Übernahme derselben die Substituierung des Weimarer System-Parlamentarismus durch ein entworfenes Kurführertum zu legitimieren. Dementsprechend stellte er dem überkommenen Parlamentarismus die Uridee der Demokratie des postulierten altgermanischen Volksstaates gegenüber.1 Bereits im „Jungdeutschen Staatsvorschlag“ sollte sich der Wille der Gemeinschaft im Führer als Teil und Ausdruck der Gemeinschaft konzentrieren; so spross der Kurführer infolge eines organischen Ausleseprozesses als stärkste Gemeinschaftspersönlichkeit aus der Gemeinschaft heraus.2
Führer und Volksgemeinschaft standen so in identitärer Deckungsgleichheit zueinander; einerseits umschloss der weltanschauliche einheitliche Wille der Volksgemeinschaft den Führer und das Volk, andererseits erschuf der Führer erst die Volksgemeinschaft und ihren einheitlichen Willen.3Der Wille von Kurführer und Volk war mithin deckungsgleich, der „Jungdeutsche Staatsvorschlag“ stellte somit die „Verwirklichung eines Führertums in der Demokratie“ dar. Diese auf das Demokratieverständnis Carl Schmitt’s zurückgehende Legitimation einer verabsolutierten Führergewalt bildete das maßgebliche Argumentationsmuster des frühen Höhn4. Anders jedoch als in Höhn’s späterer Volksgemeinschaftslehre beinhaltete das System der „Kur“ noch ein spezielles, auf dem Instrument der „Nachbarschaftsabstimmung“ basierendes Wahlverfahren.5
Unterstützung durch Carl Schmitt und Ernst Krieck
So verwundert es kaum, dass – als Höhn’s Habilitationsgesuche am Widerstand Otto Koellreutter’s im Zuge persönlicher Rivalitäten scheiterten – er prominente Unterstützung durch Ernst Krieck und Carl Schmitt erhielt: Beide verhalfen ihm zum Abschluss seiner Habilitationsschrift („Der individualistische Staatsbegriff und die juristische Staatsperson“) und verschafften ihm anschließend 1934 einen Lehrstuhl für Staatsrecht und Allgemeine Staatslehre an der Universität Heidelberg.
Wiederum mit tatkräftiger Unterstützung Karl August Eckhardt’s gelang Höhn 1935 zudem eine Berufung an die Berliner Universität. Auch Schmitt unterstützte – mehr aus strategischen Erwägungen – offiziell dessen Wechsel nach Berlin. Dennoch hielt er Höhn für „gefährlich“, sodass Schmitt hinterrücks beim REM seine Nicht-Berufung zu forcieren versuchte. Zwar lagen Höhn und Schmitt politisch dicht beieinander, doch unterschieden sie sich in der weiteren Ausprägung ihrer Thesen fundamental voneinander.
Unterschiede im konkreten Verfassungsdenken
So sehr Rechtsgelehrte wie Höhn oder Stuckart ein tragfähiges theoretisches Gerüst im Sinne einer vitalistischen Rechtserneuerung zu schaffen bestrebt waren, ein einheitliches nationalsozialistisches Staatsrecht entstand nicht. So stellte etwa Forsthoff bereits 1935 fest, dass die Errichtung des Führerstaates die Verfassungsfrage erledigt habe.6 Die von Schmitt und Höhn erdachte Identität von Führer und Volk bildete zwar die Legitimationsgrundlage der besonderen Machtkonzentration in der Person Hitler’s, doch im Gegensatz zu Schmitt, lehnte es Höhn ab den NS-Staat vom Ausnahmezustand her zu denken: „Das nationalsozialistische Deutschland zeigt […] keine Abweichung von den Grundzügen der Verfassung, sondern im Gegenteil nur eine klare Herausarbeitung des in ihr liegenden Zuges zu einer einheitlichen Führung’. Infolgedessen bedarf unser Verfassungsrecht ‚keines Ausnahmezustandes, keiner Diktatur’.“7
Nach Höhn stellte das Führerprinzip keine Form von Repräsentanz dar; der Führer unterlag keiner körperschaftlichen Bindung (wie etwa bei Huber) und stand nicht als individuelle Persönlichkeit außerhalb, sondern als stärkste Gemeinschaftspersönlichkeit innerhalb der Volksgemeinschaft. Diese Identität von Führer und Gefolgschaft schloss nach Höhn das Vorliegen einer Diktatur faktisch aus. Erst wenn der Führer aufhört im Sinne der Volksgemeinschaft zu agieren, entspricht sein Handeln automatisch dem „Verhalten eines Einzelmenschen, der von der Gemeinschaft nicht mehr getragen“8 und als Diktator folglich abgesetzt werden konnte.9
Substanzhaft-völkisches Verfassungsrecht
Neben diesen durch Höhn vorgegebenen Rahmen des Führerstaates als einer „Nicht-Diktatur“ versuchte Roger Diener in seinem RVL-Aufsatz über „Das Reich und Europa“ darzulegen, dass die völkische Rechtswissenschaft keiner selbständigen staatlichen Herrschafts- und Verfassungsordnung mehr bedürfe. Vielmehr solle sie „ihrem Wesen nach eine Abkehr von der rein positivistischen und normativen Rechtsauffassung vollziehen und das Recht wieder aus politischen und historischen Gestaltungsnotwendigkeiten des Gemeinschaftslebens erklären[…]“10. An Diener’s Auffassung, demnach rechtliche Begriffsbildungen „als Niederschlag historischer und sozialer Wirklichkeit“11 verstanden werden müssten, knüpfte Wilhelm Stuckart in seinem RVL-Beitrag „Neuordnung der Kontinente und Zusammenarbeit der Verwaltung“ an.
Darin entwarf er ein Verfassungsrecht, das die „Pflege und Entfaltung der Substanzwerte des eigenen Volkes“12durch „Zusammenfassung, Aktivierung und Formung der politischen Gestaltungskräfte“ sicherstellen sollte: „Die Verfassung eines Volkes und Landes muß nach unserer Auffassung, wie schon betont, der Ausdruck seiner arteigenen Lebenskräfte und Lebensnotwendigkeiten sein. Die Gewinnung einer Verfassung […] bedeutet die schwere Aufgabe einer Zusammenfassung, Aktivierung und Formung der politischen Gestaltungskräfte eines Landes. Wir verstehen daher unter Verfassung nicht ein geschriebenes Gesetz formeller Natur, sondern gehen von einem substanzhaften Verfassungsbegriff aus, der Ausdruck der Lebensordnung des Volkes ist.“13 Aus der völkischen Weltanschauung ergäbe sich somit das konkrete Verfassungsrecht, das Ausdruck der weltanschaulichen Lage des deutschen Volkes und seiner geistig-seelischen Haltung sein sollte.14
Der vitale Wert der Verfassungsgestaltung zur Herstellung politischer Homogenität wurde hier als Formprinzip der Idee zum letztlich historischen Entwicklungsziel apostrophiert, was eine Symbiose des „Wachsens“ und „Machens“ implizierte.15 Die Binnenstruktur des nationalsozialistischen Deutschlands als politischer Verfassung wurde im Sinne Höhn’s folglich aus dem konkreten Verhältnis zwischen Volk, Bewegung und Staat als substanzhaften Struktur- und Wirkungszusammenhang hergestellt. Als solche war sie aber in ihrem Kern völkisch-vitalistisch, was eine anti-etatistische Stoßrichtung miteinschloss: „Recht ist nach nationalsozialistischer Auffassung, […], die Pflege und Entfaltung der Substanzwerte des eigenen Volkes. Das Verfassungsrecht dient dieser Aufgabe auf dem Gebiet der Gesamtlebensordnung des Volkes.
Im Mittelpunkt der völkischen Weltanschauung steht dabei nicht der Staat oder irgendeine bestimmte Form staatlicher Organisation, sondern das Volk und seine Lebensfunktion.“16 Somit wurde dem Staat lediglich die Funktion einer volkserhaltenden Apparatur zugebilligt, wie Karl Gengenbach im Rahmen einer 1940 am IfS fertiggestellten Studie besonders hervorhob: „Da heute die Gemeinschaft der artgleichen Volksgenossen zum tragenden Rechtsprinzip geworden ist, nicht als Norm, sondern als konkrete Wirklichkeit, ist der Staat heute nur mehr ein Instrument in der Hand der Führung dieser Gemeinschaft und steht in deren Dienst. Damit ist der Staat zu einer Funktion des Volkes geworden und hat seine bisherige Stellung als eigene Größe verloren, die durch ihre Einrichtungen das Volk formte.“17
Beiderseitiges persönliches Konkurrenzdenken
Die Beziehung zwischen Schmitt und Höhn wurde zudem durch massives persönliches Konkurrenzdenken geprägt. Als Schmitt sich vermehrt mit den Vorwürfen des Opportunismus, Philosemitismus und Katholizismus konfrontiert sah und daher zunehmend eine ablehnende Haltung gegenüber den Bestrebungen des SD auf dem Gebiet der Wissenschaftspolitik einnahm, unternahm es Höhn ihn nunmehr als missliebigen Kontrahenten auszuschalten. Dabei mutet es skurril an, dass gerade Höhn, der selbst unter Opportunismusverdacht geraten war, nun einen solchen Verdacht gegen Schmitt hervorbrachte. Den Anlass für dessen Demission bildete die Befürchtung vonseiten der SS, Schmitt könne mithilfe von Hans Frank zum Staatssekretär im Justizministerium aufsteigen, um so eine katholisch-konservative Unterwanderung des Nationalsozialismus vorzunehmen.18
Höhn ließ ab Sommer 1936 gegen Schmitt nachrichtendienstlich ermitteln; nach einem Schmähartikel im „Schwarzen Korps“ erfolgte alsbald Schmitt’s schrittweise Entmachtung, der sich nur mithilfe Hermann Göring’s als Preußischer Staatsrat und Professor halten konnte. In RVL versuchten Höhn und Werner Best in der Folgezeit im Rahmen der Auseinandersetzung um das Völkerrecht (völkische vs. völkerrechtliche Großraumordnung) die Kampagne gegen Schmitt weiterzuführen. Hierbei sah sich Schmitt mit dem Vorwurf konfrontiert, sein Völkerrecht im Kern zu unvölkisch konzipiert, mithin den Großraum allein aus dem Prinzip der Nicht-Intervention heraus entwickelt zu haben, sodass die positiven völkischen Ordnungsprinzipien zwangsläufig übersehen werden müssten.19
Schmitt versuchte daraufhin die Kritik an seiner „völkerrechtlichen Großraumordnung“ durch immer weitergehende Annäherung an die Positionen Höhn’s und Best’s abzuschwächen. So schrieb er etwa, dass man innerhalb der Großräume, die sich entwickelnden zwischen-völkischen Beziehungen in der Tat auch als „völkische Großraumordnung“ bezeichnen könne.20 Die vitalistischen Kritiker übersahen im Ergebnis, dass Schmitt mit seiner Idee der konkreten Einheit von Ordnung und Ortung durchaus ein völkisches Recht konzipiert hatte, welches sich in die nationalsozialistische Argumentationsführung einpasste.21
Daher waren für die Demission Schmitt’s insgesamt weniger fachliche oder weltanschauliche Gründe ausschlaggebend (diese dienten primär als politischer Hebel der angestrebten Entmachtung), als vielmehr beiderseitiges Karrierestreben und ein generationell bedingtes Konkurrenzdenken zwischen Höhn und Schmitt. Dafür spricht, dass sich nach der Verhärtung der Fronten Mitte/Ende der 30er Jahre das Verhältnis zwischen beiden Rechtsgelehrten sukzessiv besserte. Höhn selbst stellte sein Verhältnis zu Schmitt nach 1945 als durchaus freundschaftlich dar. Man hätte einander geachtet, sich sogar besucht und einen regen Gedankenaustausch betrieben.22
Wenngleich Höhn’s Nachkriegsaussagen über Schmitt in vielerlei Hinsicht euphemistisch gefärbt sein mögen, bleibt festzuhalten, dass beide nach außen ein kollegiales Verhältnis pflegten und Höhn zumindest fachlich Hochachtung gegenüber Schmitt empfunden haben dürfte.23 Beide Juristen waren zudem offensichtlich sehr beliebt bei der Studentenschaft und genossen an der Berliner Universität große Anerkennung, was sich auch nach der Entmachtung Schmitt’s in den vielen weiterhin gemeinsam betreuten Promotions- und Habilitationsverfahren wiederspiegelte.24
Zum Nachlesen:
1Vgl. Jenß, Die „Volksgemeinschaft“ als Rechtsbegriff, S. 279f..
2Vgl. ebd., S. 280, 282.
3Vgl. ebd., S. 219.
4Vgl. ebd., S. 286f..
5Vgl. ebd..
6Vgl. ebd., S. 414.
7Roger Diener: Rez. zu Scheuner, Die deutsche Staatsführung im Kriege, in: RVL I (1941), S. 402-403, hier S. 402.
8Reinhard Höhn: Die Wandlung im staatsrechtlichen Denken, Hamburg 1934, S. 40.
9Vgl. Jenß, Die „Volksgemeinschaft“ als Rechtsbegriff, S. 220.
10Roger Diener: Das Reich und Europa, in: RVL II (1942), S. 360-376, hier S. 362f..
11Ebd., S. 363.
12Wilhelm Stuckart: Neuordnung der Kontinente und Zusammenarbeit der Verwaltung, in: RVL I (1941), S. 3-28, hier S. 9.
13Stuckart, Neuordnung der Kontinente, S. 8f..
14Vgl. Stuckart, Neuordnung der Kontinente, S. 9.
15Vgl. Ralf Walkenhaus: Konservatives Staatsdenken. Eine wissenssoziologische Studie zu Ernst Rudolf Huber, Diss., Berlin 1997, S. 145.
16Stuckart, Neuordnung der Kontinente, S. 9.
17Karl Gengenbach: Ständegedanke und Verwaltungseinheit. Reform der Staats- und Verwaltungsgrundlagen in den Plänen des Frhr. vom Stein, Diss., Ochsenfurt a. Main / Heidelberg 1940, S. 105.
18Vgl. Jenß, Die „Volksgemeinschaft“ als Rechtsbegriff, S. 82.
19Vgl. Bastian Ronge: „Der Mensch ist ein Landtreter“. Die Bedeutung des Raums im politischen Denken von Carl Schmitt, Frankfurt a. Main 2008, S. 79.
20Vgl. Herbert, Best, S. 277.
21Vgl. Klaus Anderbrügge: Völkisches Rechtsdenken. Zur Rechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, Berlin 1978, S. 106-120, zitiert nach: Ronge, „Der Mensch ist ein Landtreter“, S. 80.
22Vgl. Jenß, Die „Volksgemeinschaft“ als Rechtsbegriff, S. 99, Anm. 540. Jedoch sind Höhn’s spätere Angaben stets kritisch zu bewerten. So bestritt er nach 1945 beharrlich, dass beim SD jemals eine Akte über Schmitt geführt worden sei – ein Tatbestand der allerdings heute einwandfrei belegt ist.
23So hatte Höhn einmal anerkennend gegenüber Schmitt geäußert: „Es geht eine eminente Kraft aus von Ihren Gedankengängen, die weiteste Kreise über Studenten- und Dozentenschaft hinaus erfassen.“ Koenen 1995, S. 667, Anm. 89, zitiert nach: Anna-Maria Gräfin von Lösch: Der nackte Geist. Die Juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, Tübingen 1999, S. 437f..
24Vgl. UA Berlin, Personalakten der Juristischen Fakultät.