Gleichzeitig ist er Mittler zwischen einer mythischen und geschichtsträchtigen Zeit: Während der Totenfeier zu Ehren des gefallenen Patriklos künden sich die ersten vorolympischen Spiele an. Und noch eins bleibt bemerkenswert: Werden die Kämpfe um Troja auch rückhaltlos-grausam dargestellt, so verleiht der Dichter seinen Helden doch einen solchen Glanz, dass die blutigen Kämpfe nicht mehr unbedingt im Vordergrund zu stehen scheinen.
Durch Homer erfahren wir auch, wie der Kampf Gleichveranlagter nicht nur die körperlichen, sondern auch die geistigen Fähigkeiten emporbildet. Zwar wird der Ehrgeiz des einzelnen Gegners durch Rede und Gegenrede gewaltig angestachelt, doch diese Eigenschaft erstickt nicht andere wertvollere Anlagen im Menschen und artet nicht aus; denn das Ziel aller Beteiligten heißt: Ehre sammeln auf dem Altar der Gottheit.
So legt Homer mit seiner Dichtung den eigentlichen Grund für die Olympischen Spiele, in den Disziplinen der Kunst wie in denen der körperlichen Ertüchtigung. Nietzsche erläutert: „An das Wohl seiner Mutterstadt dachte der Jüngling, wenn er um die Wette lief oder warf oder sang; ihren Ruhm wollte er in dem seinigen vermehren; seinen Stadtgöttern weihte er die Kränze, die die Kampfrichter ehrend auf sein Haupt setzten. Jeder Grieche empfand in sich von Kindheit an den brennenden Wunsch, im Wettkampf der Städte ein Werkzeug zum Heile der Stadt zu sein: darin war seine Selbstsucht entflammt, darin war sie gezügelt und umschränkt.“
Wir erkennen wohl, daß solche Heimatliebe den Blick für die Größe des Lebens zu weiten versteht. Heimatliebe unter den Augen der Götter wird bildende Kraft, erzeugt auf die Dauer ein Volk von genialen Fähigkeiten. Wer in Olympia siegte, war von dieser Ahnung durchdrungen. Für einen seligen Augenblick verkörperte er die geheime Sehnsucht einer lebendigen Gemeinschaft, der Gottheit auch leibhaft nahe zu sein. Langstreckenläufer verkündeten der Heimatstadt rechtzeitig den Namen des Siegers, und zu seinem Empfang wurde die schützende Mauer eingerissen und in ihrer Lücke eigens ein Siegestor errichtet.
Der Olympische Wettkampf ist es, der die Griechen zu menschlicher und staatspolitischer Größe erzieht. „Nehmen wir dagegen den Wettkampf aus dem griechischen Leben hinweg“, bemerkt Friedrich Nietzsche, „so sehen wir sofort in jenen vorhomerischen Abgrund einer grauenhaften Wildheit des Hasses und der Vernichtungslust. Dies Phänomen zeigt sich leider so häufig, wenn eine große Persönlichkeit durch eine ungeheure glänzende Tat plötzlich dem Wettkampf entrückt wurde… Die Wirkung ist fast ohne Ausnahme eine entsetzliche; und wenn man gewöhnlich aus diesen Wirkungen den Schluß zieht, daß der Grieche unvermögend gewesen sei, Ruhm und Glück zu ertragen, so sollte man genauer reden, daß er den Ruhm ohne weiteren Wettkampf, das Glück am Schlusse des Wettkampfes nicht tragen vermochte.“
Die Situation unserer Zeit ist recht eigentlich dazu angetan, die Ursachen des nunmehr erfolgenden allgemeinen Niederbruchs aufzudecken. Der hohe Blutzoll, den Adel und Freie während des peloponnesischen Bürgerkriegs zu entrichten hatten, ist die eine; die Zunahme volksfremder Elemente in den Städten und das Überhandnehmen des Hetärenwesens die andere. Bereits gegen Ende der Hoch-Zeit der Olympischen Spiele ist in den geistigen Zentren, vor allem in Denkschulen Athens, eine merkwürdige Sinnesänderung wahrnehmbar. Die Bildekraft der Gesänge Homers beginnt zu erlahmen.
Der Mensch ist auf Vereinzelung aus und damit auf Entbindung aus dem Lebensganzen; er sucht das Ausgefallene, die Sensation um jeden Preis. So werden Scheinprobleme aufgeworfen, die letztlich in völlig unmotivierter Sophisterei enden; der geistige Wettkampf geht in die Irre.
Dieser verhängnisvollen Entwicklung sucht Sokrates mit seiner logischen Fragemethode zu begegnen. Allein er scheitert, ist doch die Logik immer nur eindimensional erfolgversprechend, während das Leben stets ein umgreifendes Ganzes bleibt, das allerdings seinerseits nur schwerlich imstande ist, sich auf dialektischem Wege verständlich zu machen, vor allem dann, wenn an das Geheimnis unserer Existenz gerührt wird.
Die Zeitgenossen, noch der olympischen Weltschau verhaftet, mußten in Sokrates einen Skrupellosen erkennen, der ihre Wertwelt zertrümmerte und an der Stelle nebulose Gebilde zurückließ: das Gute, das Wahre, das Schöne. Waren nicht bisher alle Tugenden Ausdruck einer Tüchtigkeit gewesen, die mit der Konstitution des griechischen Menschen zusammenhing? Das war doch bisher olympischer Stolz und olympische Verpflichtung, den Körper zum Heim des Göttlichen emporzubilden! So musste Sokrates den Schierlingsbecher leeren.
Doch damit war der Niedergang der olympischen Lebensordnung nicht aufzuhalten. Die Wort- und Gedankenzersetzer, die Sophisten, sowie die Weltverächter und Besudler des althellenischen Schönheitsideals, auch Kyniker genannt, überschrien, überhöhnten in der Folgezeit die dunkel Stimme der Gottheit. Und es dauerte nicht lange, da setzte Rom dem übermütigen Hellas den Fuß auf den Nacken. Fortan lehrten griechische Sklaven die Söhne und Töchter römischer Patrizier, was Bildung sei.
Doch was geschah währenddessen in Olympia? Wohl wurden dort zur Zeit der Pax Romana besonders prunkvolle Bauten, Gästehäuser und Thermen errichtet; doch die da am Rande des Kampffeldes lärmten, waren keine Griechen mehr: Olympia war das Reiseziel aller Emporkömmlinge und Abenteurer geworden, von Spanien bis an das Delta des Nils. Kaiser Nero z. B. griff in dem eitlen Wunsch, in Olympia zu glänzen, in den heiligen Rhythmus der Spiele ein und erzwang die Verlegung der 211. Olympiade um zwei Jahre. „Huldvoll“ erweiterte er das historische Programm der Spiele um die „Kunstwettkämpfe“; neben dem Wettstreit der Sänger und Tragödiendichter wurde ein Pferderennen mit Zehnergespannen eingeführt. Der Kaiser nahm an allen Übungen persönlich teil und liess sich bei jeder Gelegenheit als Sieger auszeichnen. Auf dieser einen „Kunstreise“ allein nötigte er, der von einer fünftausend Kopf starken Leibwache begleitet wurde, unter dem Beifall seiner Claqueure den griechischen Kampfrichtern eintausendachthundert Siegeskränze ab.
Doch eine Genugtuung bleibt: Die eleischen Hellanodiken haben später die von Nero mißbrauchten Spiele als Anolympias erklärt. Indessen ging es weiter abwärts; nur wenige Wettkampfteilnehmer stammten in den folgenden Jahren noch aus Hellas. Professionals verdrängten die selbstlosen Olympioniken. Die kultische Feier artete in ein sinnentleertes Schauspiel aus, in dem die Snobs die Szene beherrschten. Als schließlich Kaiser Konstantin den Christenglauben zur Staatsreligion erhob, zeichnete sich bald das Ende der Olympischen Spiele ab. Der Römer duldete und veranlaßte die Plünderung der Tempel.
Und schließlich war es Kaiser Theodosius der Große, ein fanatischer Spanier, der ein Jahr nach der 293. Olympiade alle heidnischen Spiele verbot. Das Standbild des Zeus von Olympia wurde nach Konstantinopel verschleppt, wo es im Jahr 476 n. Ztr. Verbrannte.
Nach Angaben des römischen Historikers Plinius sind im Lauf der Zeit aus den Heiligtümern von Delphi, Rhodos und Olympia nicht weniger als dreitausend Statuen entführt worden, darunter solche von unübertroffener Schönheit und innerer Harmonie, Zeugen einer Hoch-Zeit menschlichen Bildens, die in einigen Exemplaren den Zerfall von Geist und Sprache eines hochbegabten Volkes bis in die Gegenwart überdauern sollten.
Als Europa Ende des 19. Jahrhunderts auf der Höhe seiner Macht und seines Ansehens stand, besann es sich auf die Zeit, da auch die griechische Völkerschaft sich Hochziele gesteckt hatte. Deutscher Idealismus und französische Tatkraft riefen erneut die Olympischen Spiele ins Leben. Schon 1859 hatte man in der griechischen Hauptstadt gymnastische Wettkämpfe nach hellenischem Vorbild abgehalten. Doch erst die aufsehenerregenden Entdeckungen eines Heinrich Schliemann in Troja und Mykene, die Verdienste eines Curtius um Olympia weckten in anderen europäischen Ländern das Interesse an den alten herrlichen Spielen.
Am 23. Juni 1894 konnte am Ende einer debattenreichen Sitzung der französische Baron Pierre de Coubertin die Gründung eines „Internationalen Olympischen Comitees“ verkünden lassen. Noch heute ist das Programm des Franzosen lesenswert. Erstaunlich sein Urteil über das Versagen der Pädagogik! Sie beherrsche nicht mehr die Kunst des Anspannens, des Sammelns verschiedener Kräfte in einer harmonischen Verbindung. Sie habe sich mitreißen lassen und sich dann selbst fortgetrieben in eine maßlose Spezialisierung!
Coubertins Aufruf verhallte nicht ungehört! Zwei Jahre später finden die ersten neuen Olympischen Spiele in Athen statt, sie dauern zehn Tage. Es ist ein bescheidener Anfang, von der Weltpresse schlecht gewürdigt. Auch die nächsten Olympiaden sind noch von Kalamitäten überschattet. Erst die Olympischen Spiele in London (1912) finden ein weltweites Echo; sie werden in einem würdigen und gleichzeitig zweckgerechten Rahmen begangen.
Olympia selbst ist eine Weihstätte, an die Erdkräfte der Heimat gebunden und dem Zivilisationsbetrieb völlig wesensfremd. Deshalb empfanden es alle Sportfreunde als eine segensreiche Tat, als Carl Diem 1936 veranlaßte, für die Olympischen Spiele in Berlin das heilige Feuer von der Urstätte zu holen, als sollte das Licht, das einst unsere Ahnen aus ihrer nordischen Heimat mit in den Süden gebracht hatten, nunmehr in einem riesigen, völkerverbindenden Fackellauf an den Ursprung zurückkehren.
Freuen wir uns an dem, was immer erfreulich bleiben wird: an der Begeisterungsfähigkeit aller Sportfreunde! Sie wirkt Gutes, Menschen aus den verschiedensten Ländern lernen einander kennen und wertschätzen, würdigen die Fähigkeiten der Olympioniken, ziehen Vergleiche, entdecken grundlegende Unterschiede und erkennen einander doch an. Das ist das Entscheidende. Nur so fallen Vorurteile, aber auch nur so findet jeder in sich selbst das ihm auf die Dauer Gemäße nämlich, das wir in uns und den anderen zu achten haben.
Und bei weiterem Nachdenken wird man begreifen, warum die Besten der einzelnen Völker ganz bestimmten Disziplinen zuneigen. Natürlich ging es während der Olympischen Spiele nur um die Leistung einzelner, aber damit auch um den Fähigkeitsnachweis des jeweils dahinterstehenden Volkes.
Wir sollten uns zu keiner Stunde von denen abwenden, die in edlem Kampf ihre Kräfte messen. Ihnen leuchtet die Sonne Homers!
Quelle: Siegfried Bokelmann, Zur Geschichte des olympischen Gedankens, Deutschland in Geschichte und Gegenwart – Heft Nr. 4, Grabert-Verlag Tübingen 1972